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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

Stellen einen Rückhalt, während die preussischen Lokalbehörden, die Regierungspräsidenten und die Landräte „um die Versöhnung nicht zu stören“ in ihrer Aktionsfreiheit gebunden wurden. So wurde die preussische Verwaltung mattgesetzt, eine Situation, die von den Polen stets politisch ausgenutzt worden ist.

Für die preussische Staatsverwaltung ergibt sich hieraus dieselbe. Lehre, die Österreich in schlimmen Erfahrungen erkennen musste: In den Gebieten des Nationalitätenkampfes treten die nationalen Differenzen heute mit solcher Wucht auf, dass sie alle Kräfte und Einrichtungen in ihren Dienst zwingen. Weder Staat noch Kirche können sich dem entziehen. Mit friedfertigen und menschenfreundlichen Phrasen ist solche Situation nicht zu überwinden, vielmehr hat die Staatsverwaltung nur die Wahl, ob sie beherrschend in den Kampf eingreifen oder – ein Popanz der Parteien werden will. In beiden Fällen ändert die Staatsverwaltung ihr normales Aussehen: sie erweicht entweder wie in dem Kampfgebiete Österreichs oder sie muss hart und scharf werden.[1]

II. Der wirtschaftliche Kampf um die Ostmarken und die Ansiedelungspolitik.

1. Der Tiefstand der polnischen Wirtschaft.

Bis zum Anfang der 80er Jahre hielt niemand für möglich, dass die Polen einen wirtschaftlichen Kampf mit den Deutschen wagen könnten. Die „polnische Wirtschaft“ war sprichwörtlich geworden für Unordnung und Schlaffheit. Über „das unordentliche Polenzeug“ hatte schon Friedrich der Grosse geklagt, als er die wirtschaftlichen Verhältnisse in den neu erworbenen Landesteilen kennen lernte. Und noch 1870 schrieb ein kluger Beobachter: „Es ist eine Schmach zu sehen, so eine polnische Bauernwirtschaft!“[2] Ungenügende Bestellung des Bodens und jammervolle Ernten, Wucher, Trunkenheit und Verfall. Nicht anders der polnische Grossgrundbesitz, der zum Teil versumpft oder verdorrt dalag, wenn nur der Rest genügte, um die Kosten der jährlichen Reise nach Paris zu bezahlen. Kein Wunder, dass im Laufe des 19. Jahrhunderts der Grundbesitz allmählich in deutsche Hände überging und die Deutschen, die kaum ⅓ der Bevölkerung ausmachten, Anfang der 80er Jahre etwa des Bodens in Händen hatten. Ebenso wurde der Handel und die junge Industrie von Deutschen geleitet; Deutsche, die im Gegensatz zu den Polen meist zweisprachig waren[3], beherrschten das Wirtschaftsleben.


  1. In dieser Überzeugung hat Bismarck noch im Jahre vor seiner Entlassung dafür Sorge getragen, dass die Posener Provinzialverfassung mit Kautelen versehen wurde. Sie sind im Gesetz über die Allgemeine Landesverwaltung und Zuständigkeit der Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsbehörden in der Provinz Posen vom 19. Mai 1889 enthalten und lauten:
    In Artikel III: Die gewählten Mitglieder des Provinzialrates und des Bezirksausschusses bedürfen der Bestätigung des Ministers des Innern resp. des Oberpräsidenten.
    Wird die Bestätigung versagt, so wird zu einer neuen Wahl geschritten.
    Wird auch diese Wahl nicht bestätigt, so hat die zur Bestätigung berufene Behörde das Mitglied zu ernennen.
    In Artikel IV: Der Kreisausschuss besteht aus dem Landrate als Vorsitzenden und sechs Mitgliedern, welche von dem Oberpräsidenten aus der Zahl der Kreisangehörigen ernannt werden.
    Die Ernennung erfolgt auf Grund von Vorschlägen des Kreistages. Lehnt der Kreistag die Aufforderung des Oberpräsidenten zur Vervollständigung dieser Vorschläge ab, so hat der Provinzialrat auf Antrag des Oberpräsidenten darüber zu beschliessen, ob und welche Personen nachträglich in die Vorschlagsliste aufzunehmen sind.
    Lehnt der Provinzialrat die Zustimmung ab, so kann dieselbe auf Antrag des Oberpräsidenten durch den Minister des Innern ergänzt, werden.
    In Artikel V: Die Mitglieder des Provinzialausschusses und deren Stellvertreter bedürfen der Bestätigung des Ministers des Innern.
    Wird die Bestätigung versagt, so schreitet der Provinziallandtag zu einer neuen Wahl.
    Wird auch diese Wahl nicht bestätigt, so kann der Minister des Innern die kommissarische Verwaltung der Stelle auf Kosten des provinzialständischen Verbandes anordnen.
  2. H.(undt) von H.(afften): Das Verhältnis der Provinz Posen zum preussischen Staatsgebiete. – 1870.
  3. Leo Wegener, I. e. S. 76.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 219. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/235&oldid=- (Version vom 14.9.2022)