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2. Wirtschaftliche und soziale Arbeit im polnischen Volke.

Doch im polnischen Volke arbeiteten seit Jahrzehnten weitblickende Männer an wirtschaftlicher und sozialer Hebung. Jede Enttäuschung politischer Hoffnungen, jede misslungene Verschwörung, jede fehlgeschlagene Revolution schob die einst verachtete, nüchterne wirtschaftliche Arbeit stärker in den Vordergrund und nach der politischen Niederlage von 1863 entstand unter Führung Maximilian Jackowskis eine Gruppe der „positiven Arbeit“, durchdrungen von dem Gedanken, dass die Polen sich nur entwickeln könnten, wenn sie bis in die Tiefen ihres Volkes soziale Organisationen führten, um die ziellose und stumpfe Masse zu bewusster Arbeit zu wecken. Jedoch noch ein Jahrzehnt dauerte es, ehe die Gruppe der „positiven Arbeit“ gegenüber den phantastischen Politikern zur Wirkung kam. Erst nach der Gründung des Deutschen Reiches, als die Hoffnungen auf Losreissung und Selbständigkeit allmählich erlahmten, wendeten sich die Polen in grösserer Zahl der wirtschaftlichen Reorganisation zu und man kann als den Anfang dieser neuen Zeit den Februar 1873 bezeichnen, da auf der Generalversammlung des Zentralvereins polnischer Grundbesitzer beschlossen wurde, polnische Bauernvereine zu begründen. Kurz vorher hatten sich einige Wirtschaftsgenossenschaften zusammengetan, um den Kredit der Polen zu entwickeln und bald zeigte sich, dass die wirtschaftlichen Organisationen der Polen auch Träger des polnischen Nationalismus wurden.

Während diese Umbildung vor sich ging, war der Kampf um die Verwaltung der Provinz in die Epoche der Schulpolitik getreten und die Regierung hatte wohl erkannt (wenn sie das offiziell auch niemals zugab), dass die grossen Hoffnungen, welche man an die germanisierende Wirkung der deutschen Schule knüpfte, sich nicht verwirklichten. Im Gegenteil hatte die germanisierende Schulpolitik bis in die letzte Hütte einen Agitationsstoff getragen, der die bis dahin in Dumpfheit lebende Masse politisch erregte. Hiermit verband sich[1] in einer sehr geschickten und unangreifbaren Weise die polnische Bauernorganisation, die Anfang der 80er Jahre in etwa 120 Vereinen den Kern der polnischen Bauernschaft umfasste. Zwar war „Politik“ in den Bauernvereinen verpönt, aber die Pflege des polnischen Nationalgefühls galt nicht als Politik. Den Boden nicht in deutsche Hände gelangen zu lassen, sich gemeinsam gegen Massregeln der preussischen Regierung zu wehren, die Vorherrschaft der Deutschen im Handel zu bekämpfen, das wurde ein Hauptzweck der nationalen Organisation.

Da also die Schulpolitik versagte und die polnische Bevölkerung sich bewusster und wirksamer gegen die Deutschen organisierte, griff die Regierung zu einem Mittel, das sich in der preussischen Geschichte seit Jahrhunderten wohl bewährt hatte: zur Kolonisation.

3. Die Begründung der Ansiedlungskommission.

Am 26. April 1886 erging ein Gesetz, welches der Regierung einen Fonds von 100 Millionen Mark zur Verfügung stellte, um zur Stärkung des deutschen Elementes in den Provinzen Westpreussen und Posen deutsche Bauern und Arbeiter anzusiedeln. Die Ausführung des Gesetzes wurde einer besonderen Kommission (Ansiedlungskommission) übertragen, welche dem Staatsministerium unterstellt wurde.

Um der neuen Behörde eine möglichst selbständige, von bureaukratischen Reibungen befreite Wirksamkeit zu sichern, vereinigte der König die Ämter des Präsidenten der Ansiedlungskommission und des Oberpräsidenten von Posen in einer Person.[2]

Als die Ansiedlungskommission ans Werk ging, zeigte sie sich den Polen so überlegen, dass sie mit Leichtigkeit verschuldete Güter des polnischen Adels kaufte und im ersten Jahrfünft über 45 000 Hektar aus polnischer Hand gewann. Zugleich meldeten sich deutsche Ansiedler in steigender Zahl, um in unseren Osten einzurücken.

Nach diesem energisch und zielbewusst geführten Eröffnungsspiel bot sich Anfang der 90er Jahre eine glänzende Gelegenheit, die Ansiedlungspolitik mit wenigen grossen Zügen für die Dauer zu


  1. Vgl. die Schilderung in meiner „Polenfrage“ S. 85ff.
  2. Graf Robert von Zedlitz u. Trützschler. Diese Personalunion, die sich bewährt hat, ist leider nach der Entlassung Bismarcks wieder aufgegeben worden.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 220. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/236&oldid=- (Version vom 14.9.2022)