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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

der die französische Volksseele bestimmte. So wurde der Versuch der Spanier, mit Bismarcks Zustimmung dem Erbprinzen Leopold von Hohenzollern die 1868 durch die Absetzung der Königin Isabella erledigte Krone zu übertragen, in Paris als eine Massregel angesehen, durch welche Spanien in das preussische Machtsystem einbezogen und Frankreich zwischen zwei Feuer gebracht werden sollte. Der Kaiser Napoleon III., von dem Herzog von Gramont schlecht und leidenschaftlich beraten, verlangte von König Wilhelm, auch als Leopold von seiner Bewerbung zurückgetreten war, Bürgschaften gegen ein erneutes Zurückkommen des Erbprinzen auf den Plan, was der König am 13. Juli 1870 als ungehörig ablehnte. Bismarck gab der Welt von der Ablehnung durch die sogenannte Emser Depesche Kunde. Napoleon III. erklärte unter dem Eindruck der gegen Preussen entflammten Volksstimmung am 19. Juli 1870 den Krieg. Durch den festen Zusammenschluss Alldeutschlands unter dem preussischen Oberbefehl und die geniale Heeresleitung des Generalstabschefs v. Moltke, den eine grosse Anzahl tüchtiger Generäle unterstützten und der an dem deutschen Heer ein unvergleichliches Kriegswerkzeug hatte, wurde zuerst das Kaiserreich (Napoleons Gefangennahme bei Sedan 1. und 2. September) und dann nach dessen gewaltsamem Sturz durch eine Pariser Revolution (4. September) die dritte französische Republik niedergeworfen. Am 28. Januar 1871 musste sich Paris an Wilhelm I. ergeben, der seit dem 18. Januar, nachdem die süddeutschen Staaten sich im November 1870 mit dem Norddeutschen Bund zum Deutschen Reich vereinigt hatten, auf den Wunsch der Fürsten und freien Städte Deutschlands den Titel des Deutschen Kaisers führte. Am 1. März zogen 30 000 Mann deutscher Truppen als Sieger in Paris ein, am 2. März genehmigte die neugewählte französische Nationalversammlung in Bordeaux den Friedensvertrag, der am 10. Mai in Frankfurt a. M. seine endgültige Fassung erhielt. Danach trat Frankreich das ganze Elsass ausser Belfort und von Lothringen den deutschen Teil samt Metz und Diedenhofen an das Deutsche Reich ab und bezahlte eine Kriegsentschädigung von 5 Milliarden Franken.

Der Krieg war von Frankreich unternommen worden, um seine Führerstellung in Europa wieder aufzurichten und zu befestigen; sein Ergebnis war, dass Deutschland, zum Nationalstaat geeinigt, die massgebende Rolle in Europa überkam. Gleich zu Anfang hat Kaiser Wilhelm I. in seiner Ansprache an das deutsche Volk vom 18. Januar 1871 es betont, dass die Aufgabe des Deutschen Reiches nicht auf dem Gebiet kriegerischer Eroberungen liegen solle, sondern auf dem der Wahrung der Güter und Gaben des Friedens, nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung. Diese Politik hat das Deutsche Reich auch unter Wilhelm I. (18. Juni 1871 bis 9. März 1888) unter der kurzen Regierung seines Sohnes Friedrich (1888) und unter Kaiser Wilhelm II. (seit 15. Juni 1888) unentwegt betätigt. Frankreich dürstete zwar nach Rache für die erlittene Niederlage und stellte mit bewunderungswürdiger Spannkraft sein zerrüttetes Finanz- und Heerwesen wieder her. Deutschland entwickelte aber ebenfalls seine Verteidigungsmittel durch Steigerung seiner Truppenziffer auf je sieben Jahre (1874, 1880 und 1887) und dann auf fünf Jahre (seit 1893, wobei die zweijährige Dienstzeit eingeführt wurde). 1913 ist die tatsächlich abgekommene allgemeine Wehrpflicht durch Mehreinstellung von 63 000 Mann wieder durchgeführt worden. Durch die Steuer- und Zollreformen von 1879, 1906, 1909, 1912 und 1913 („Wehrbeitrag“) schuf sich das Reich neue Grundlagen seiner Finanzen und seiner wirtschaftlichen Kraft. Der 1871 ausgebrochene „Kulturkampf“ Preussens mit der katholischen Kirche ward nach langen Verhandlungen mit Leo XIII. 1887 durch Nachgeben beider Teile beendigt. Dem Anwachsen der Sozialdemokratie stellte Bismarck zuerst ein Ausnahmegesetz vom 21. Oktober 1878, dann aber auf Grund der kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881 eine gross und weit angelegte Sozialreform durch Versicherung der Arbeiter gegen Unfall, Krankheit, Alter und Gebrechlichkeit entgegen. Ebenso eröffnete er seit 1884 durch Gewinnung von Kolonien in Afrika und im stillen Ozean der steigenden Volksmasse des Mutterlandes die dringend notwendigen überseeischen Absatzgebiete und Bezugsquellen von Rohstoffen. Nach Bismarcks Sturz am 20. März 1890 wurde die Sozialreform auch auf dem Gebiet des Arbeiterschutzes fortgesetzt (1911 Reichsversicherungsreform). Den französischen Rachebestrebungen stellte Bismarck 1872 das sog. „Dreikaiserverhältnis“, ein freundschaftliches Zusammenhalten der grossen Monarchien von Russland, Österreich und Deutschland gegen die revolutionären Mächte, entgegen, und als dieses Verhältnis unter der Einwirkung des russisch-türkischen

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 267. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/283&oldid=- (Version vom 14.9.2022)