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und militärische Bildung befähigen und berechtigen allein zu diesem Führerberuf, der auch erhebliche Anforderungen an die Nervenkraft stellt.

Das aktive Offizierkorps ist ferner die Wiege für die wirklichen kriegerischen Genien, die in sich die höchste Harmonie aller militärischen, kulturellen und nationalen Kräfte vereinigen: die schöpferischen Feldherrnnaturen, die eigentlichen Kriegskünstler, die ebenso selten wie die grossen Staatsmänner sind. Sie schaffen als starke Persönlichkeiten die lebendige Tradition eines Heeres, die über das Grab hinausreicht, sie sind die Flamme, an der sich die jungen Generationen erwärmen, das grosse Licht, von dem sich neue Gedanken entzünden, die vor geistloser Nachahmung und dem Schema, das vor dem Feinde versagt, schützen. Ihrer oft im Nebel der Ungewissheit und unter dem Druck schwerster Verantwortung erfolgenden, für das Kriegsergebnis entscheidenden Tätigkeit sind freilich bei den heutigen Massenheeren engere Grenzen gesteckt.[1]

Als Stütze und Gehilfen steht den Offizieren ein zwar länger als die Mannschaften dienendes, aber nicht zu den Berufssoldaten zählendes Unteroffizierkorps von möglichst erweiterter Schulbildung zur Seite. Es hilft die wehrfähige deutsche Jugend zu Treue und Tapferkeit, guter Sitte, Gehorsam und unbedingtem Pflichtgefühl auf Grundlage der Gottesfurcht, des Opfermutes der eigenen Person für das Vaterland erziehen. Nur dann ist eine gute Manneszucht der Truppe möglich, die den Grundpfeiler der Armee und die Vorbedingung für jeden Erfolg bildet.

Das unter den Waffen befindliche aktive Heer mit herabgesetzter Dienstpflicht und hoher Friedenspräsenzstärke ist zugleich die Schule und der Rahmen der die Feldarmee verstärkenden und mit ihr organisch verbundenen Reserve-, Landwehr- und Landsturmtruppen, für welche Ersatzformationen im Kriege immer neue Ergänzung liefern. Die Heranbildung kriegsbrauchbarer Offiziere und Unteroffiziere des Beurlaubtenstandes ist eine der wichtigsten Aufgaben der dafür verantwortlichen aktiven Offiziere. Erst durch diese mit starken aktiven Stämmen durchsetzte eigentliche Volkswehr entsteht das Gesamtheer, die kriegerisch organisierte Volkskraft, das begeisterte und aufopferungsfreudige „Volk in Waffen“, wie es die heute im Zeitalter der Masse und der Maschine erforderlichen Millionenaufgebote nötig machen. Es bildet also eine eigenartige Verbindung zwischen dem stehenden Berufsheer des Friedens und der im Kriege erweiterten Miliz,[2] die aber die Mängel beider vermeidet und ihre Vorzüge vereinigt.

Kein Staat Europas kann ein schlagfertiges Offensivheer, das das Haupt der Kriegsverfassung, die verkörperte Würde und Hoheit des Staats, in Tätigkeit setzt, ihm den einheitlichen Impuls und die Richtung gibt und es im stets schlagfertigen Zustand erhält, weniger entbehren als das Deutsche Reich, das durch sein Heer geschaffen wurde. Bei seiner die Kriegsgefahr verstärkenden, weil leicht einkreisbaren Lage im Herzen des Kontinents, der Gestalt und Zugänglichkeit seiner Land- und Seegrenzen mit dreien der stärksten Militärmächte und vier kleineren Staaten als Nachbarn, sowie einer breiten Küstenfront und fernen Kolonien, die im Mutterlande zu schützen sind, ist, zumal bei dem vorwiegend festländischen Charakter seiner geschichtlichen Entwicklung und seiner monarchischen Staatsform in erster Linie die Armee, das Volksheer, unerlässlich für seine Machtstellung und eine kraftvolle Politik nach aussen und innen. Das Dasein des Reichs bleibt mit ihr unauflöslich verknüpft, und es wird kein europäischer Krieg entbrennen, in den wir Deutsche nicht verwickelt werden, um dann um unser Schicksal ringen zu müssen.

Gewiss entzieht das Heer jährlich an 660 000 arbeitskräftige Männer der Volkswirtschaft, was eine Einbusse von etwa 660 Millionen am Volksvermögen bedeutet und bei der gebotenen Durchdringung von Wehrkraft und Finanzwesen sicher sehr ins Gewicht fällt. Aber diese „Versicherungsprämie“ für den ganzen lebenden und


  1. Feldherren werden zwar geboren, sie müssen aber auch erzogen werden. Die grössten Aussichten für eine vorzügliche Heeresführung sind da vorhanden, wo ein absoluter Herrscher zugleich sein eigener und zwar ein geborener Feldherr ist, wie dies bei Friedrich dem Grossen und Napoleon I. der Fall war. Sie verfügten unumschränkt über die gesamten Mittel des Staats. Im monarchischen Deutschland, wo der Kaiser zugleich Oberster Kriegsherr ist, liegen die Verhältnisse auch heute günstiger für den Oberbefehl als in bürgerlichen Republiken.
  2. Milizartige Heere eignen sich wohl für Staaten wie die Schweiz, Norwegen usw., nicht aber für Grossmächte, da sind sie ein Trugbild voller Gefahren! Und nehmen zudem die Wehrpflichtigen stärker in Anspruch.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 281. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/297&oldid=- (Version vom 13.5.2023)