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verhandeln; und es schien, als ob die englisch-russische Entente auch auf die europäische Politik ausgedehnt werden sollte. Die österreichisch-russische Balkan-Entente war, wie das österreichische Sandschakbahnprojekt erkennen liess, zu Ende; und der Besuch König Eduards in Reval (Juni 1908) wurde allgemein als das Anzeichen einer neuen Phase der englisch-russischen Politik aufgefasst. Die jungtürkische Julirevolution bereitete diesen Plänen ein schnelles Ende. In der Balkankrisis stand die Tripleentente gegen Österreich und Deutschland. Aber innerhalb der Tripleentente arbeitete Frankreich aufs eifrigste für den Frieden, während Russland selbst keinen Krieg führen konnte. Italien, dessen öffentliche Meinung, im Gegensatz zu der Politik Tittonis, den österreichischen Annexionsplan anfänglich aufs schärfste bekämpft hatte, leistete später ebenfalls schätzenswerte Vermittlerdienste, und schloss sich wieder enger an den Dreibund an, je deutlicher die Stärke der verbündeten Mächte zutage trat. Die Tripleentente hatte gegen die Zentralmächte nichts ausrichten können, und Russland beabsichtigte, zumal nach dem Rücktritt Iswolskis nicht, den Versuch zu wiederholen, sondern zog eine Annäherung an Deutschland vor. Auch während der Krisis waren die Beziehungen zwischen den beiden Höfen nie abgerissen, und im August 1911 kam ein Vertrag zwischen Deutschland und Russland zustande, in dem Russland seinen Widerstand gegen die Bagdadbahn aufgab und die rein wirtschaftlichen Interessen Deutschlands in Persien anerkannte.

In den deutsch-englischen Beziehungen war seit den Jahren 1901 und 1905 allmählich eine Besserung eingetreten. Die wirtschaftliche Konkurrenz wurde unter dem Einfluss der guten Wirtschaftsjahre weniger empfunden. Gegenseitige Besuche verschiedener Körperschaften trugen dazu bei, die Verbitterung der öffentlichen Meinung hüben und drüben etwas abzuschwächen. Die liberale Regierung setzte zwar die auswärtige Politik ihrer Vorgänger fort, hatte aber zugleich den Wunsch, zu besseren Beziehungen zu Deutschland zu gelangen. Die wichtigsten direkten Gegensätze, die zwischen beiden Ländern bestanden, betrafen die Flottenfrage und die Bagdadbahn. Der Gedanke des englischen Liberalismus, die Seerüstungen beider Nationen durch ein Abkommen zu regeln, liess sich natürlich nicht verwirklichen. Die englische Regierung wandte im März 1909 das gewaltsame Mittel einer Flottenpanik an, um den Widerstand des radikalen Parteiflügels gegen ihre grossen Mehrforderungen zu überwinden. Seitdem trat in England eine Beruhigung ein. Das zeigte sich namentlich bei den Dezemberwahlen von 1910, wo auch die Unionisten erkannten, dass die antideutsche Agitation bei den Wählerschaften kein Echo mehr fand. Auch in der Bagdadbahnfrage trat eine Entspannung ein; die Bagdadbahngesellschaft und die türkische Regierung kamen überein, dass die Bahnstrecke von Bagdad bis Basra unter gewissen Bedingungen internationalisiert werden könne. Ferner wirkte die deutsch-russische Annäherung günstig auf die deutsch-englischen Beziehungen. Während in der Zeit des englisch-russischen Gegensatzes eine deutsch-englische Annäherung leicht in Petersburg verstimmte, und eine deutsch-russische in London Besorgnisse erregte, hat die Entente von 1907 diese Verhältnisse geändert. Die deutsch-russische Annäherung war in gewissem Masse sogar geeignet, eine deutsch-englische Verständigung zu erleichtern, da sie England die Gelegenheit nahm, im nahen Osten und in Persien die russische Politik gegen Deutschland zu unterstützen. Indes war der deutsch-englische Gegensatz keineswegs allein eine Folge von Fragen, die beide Länder direkt berührten. Seitdem sich die englische Politik nach Frankreich orientiert hatte, und vor allem seit der ersten Marokkokrisis waren die deutsch-englischen Beziehungen ganz wesentlich durch die deutsch-französischen bestimmt. Die zweite Marokkokrisis von 1911 musste daher wiederum einen Rückschlag in den deutsch-englischen Beziehungen verursachen. England unterstützte die französische Politik, teils auf Grund seiner 1904 eingegangenen Verpflichtungen, teils in der Absicht, eine Isolierung und eine diplomatische und letzten Endes eine militärische Niederlage Frankreichs zu verhindern.

Aber noch während der Marokkokrisis zeigte sich’s, dass innerhalb der englischen Regierung eine Richtung bestand, die das Ziel einer schliesslichen Verständigung mit Deutschland nicht aus den Augen verloren hatte. Nach Beendigung der Krisis entstand eine starke politische Bewegung, die die englische Politik während des deutsch-französischen Konfliktes scharf kritisierte und um so energischer auf Anbahnung guter Beziehungen zu Deutschland drängte, als die leidenschaftliche Erregung, die sich der öffentlichen Meinung in Deutschland bemächtigte, vorzugsweise gegen England gerichtet war. In der Tat hatte die endgültige Liquidation der Marokkofrage des bedeutendste

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 311. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/327&oldid=- (Version vom 12.12.2021)