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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

Hindernis, das einer englisch-deutschen Annäherung im Wege stand, beseitigt. Schon in seiner grossen Rede vom 28. November 1911 sprach Sir Edward Grey die Erwartung aus, „dass in zwei bis drei Jahren das Gerede von einem grossen europäischen Kriege aufgehört haben und dass sich zwischen England und Deutschland “a growth of goodwill” gebildet haben würde“. Das erste Anzeichen einer Wendung der Dinge war die Reise Lord Haldanes nach Berlin; und es war noch kein Jahr seit jener Rede Sir Edward Greys vergangen, als sich England und Deutschland in engster politischer Zusammenarbeit gefunden hatten, um als beherrschender Mittelpunkt eines in der Bildung begriffenen europäischen Konzertes den europäischen Frieden zu schützen.

Mit der Liquidation der Marokkofrage waren die vertragsmässigen Verpflichtungen Englands gegen Frankreich erfüllt. Die englische Politik blieb entschlossen, an den Ententen mit Frankreich und Russland, für die sie so manche Opfer gebracht hatte, festzuhalten; allein sie fasste diese Ententen in keinem exklusiven Sinne auf, und wünschte sie durch freundschaftliche Beziehungen mit Deutschland zu ergänzen. Der Gedanke, das politische Gleichgewicht zwischen den kontinentalen Mächtegruppen zu erhalten, ist zwar in England lebendig geblieben, aber es beschränkte sich mehr nur auf den theoretischen Fall, dass etwa Deutschland Frankreich angriffe. England ist gegenwärtig eine friedliebende Macht, und es wird in seiner Friedensliebe durch die Erfahrungen des Burenkrieges, die noch lange unvergessen bleiben werden, bestärkt. Immerhin wäre es falsch, seine Friedensliebe zu überschätzen. Falls es seine wichtigsten Interessen in Gefahr sähe, würde es vor der ultima ratio eines Krieges nicht zurückschrecken und als ein solcher Fall gälte den Engländern auch die Möglichkeit einer Niederwerfung Frankreichs durch die deutschen Waffen. Es gilt weiter von der englischen Politik, dass sie territorial saturiert, und daher Änderungen des territorialen Status quo im allgemeinen abgeneigt ist. Aber es war eine Wirkung der Marokkokrisis, dass die englische Politik sich heute einer kolonialen Expansion Deutschlands nicht mehr widersetzt, soweit sie nicht den eigenen speziellen politischen und strategischen Interessen zuwiderläuft. Diese veränderte Haltung Englands zeigt sich u. a. in dem grösseren Entgegenkommen, das es neuerdings in der Bagdadbahnfrage bewiesen hat.

Im Verfolg der Marokkokrisis sind die Fragen der englischen Wehrpolitik in Verbindung mit der auswärtigen Politik sehr lebhaft erörtert worden. Nach der Armeereform Lord Haldanes besitzt England ein kleines, aber gut organisiertes Expeditionskorps von etwa 160 000 Mann, das jederzeit zum überseeischen Dienst bereit ist, und eine milizartige Territorialarmee von etwa 250 000 Mann, die zur Landesverteidigung bestimmt ist, und die sich eingestandenermassen mit einem modernen kontinentalen Heere nicht messen könnte. Wenn man davon ausging, dass England mit seinem Expeditionskorps in einen eventuellen europäischen Krieg eingreifen sollte, so ergab sich ein offenbares Missverhältnis zwischen seiner Wehrverfassung und einer kontinentalen Politik, zu deren Durchführung eine auf der allgemeinen Wehrpflicht beruhende Armee nötig wäre. Während eine politische Richtung in England die Bestrebungen von Lord Roberts unterstützte, die allgemeine Wehrpflicht in England einzuführen, lehnten die liberale Regierung und die liberale Partei diesen Gedanken a limine ab. Die Liberalen waren entschlossen – und die massgebenden Kreise der Unionisten haben sich ebenfalls zu diesem Grundsatz bekehrt, – das vorhandene Missverhältnis zu beseitigen, nicht indem sie die Wehrverfassung im kontinentalen Sinne änderten, sondern indem sie ein stärkeres Desinteressement der englischen Politik in den Fragen des europäischen Kontinents betonten. Es war ganz in diesem Geiste, dass im Frühjahr 1912, als von bestimmten englischen Kreisen angeregt wurde, die Entente mit Frankreich in ein festes Bündnis zu verwandeln, die Antwort sehr entschieden im entgegengesetzten Sinne ausfiel. Nachdrücklich hat dann noch am 10. April 1913 der englische Premierminister im Parlament erklärt, dass England keinerlei militärische oder maritime Verpflichtungen für den Kriegsfall übernommen habe, und am 5. August 1913 erklärte der Lordkanzler im Oberhaus, dass England (in Europa) keine Bündnisse habe. Unbeschadet der Fortdauer der Entente cordiale ist die englische Politik unmerklich wieder in die Geleise der Salisburyschen Politik eingelenkt, nur dass man nicht mehr von einer Politik der „glänzenden Isolierung“, sondern von einer Politik der „freien Hand“ spricht. Dass England damit nicht auf eine aktive Politik in den grossen europäischen Fragen verzichtete, zeigte sich, als der Balkankrieg ausbrach. England übernahm vielmehr die führende Rolle; die Botschafterreunion, die auf die Initiative

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 312. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/328&oldid=- (Version vom 12.12.2021)