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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

Sir Edward Greys zusammentrat, tagte in London; und Downing Street wurde für eine lange Reihe von Monaten das wichtigste Zentrum der europäischen Diplomatie. Aber die englische Aktion bewegte sich nicht auf demselben Boden wie während der bosnischen Krisis von 1908/09. Sie warf ihr Gewicht nicht in die Wagschale der Triple-Entente, sondern sie erstrebte die Bildung eines europäischen Konzertes. In diesem Bestreben, nicht die Gruppierung der europäischen Mächte in zwei Lager, Dreibund und Triple-Entente, zu betonen, sondern vielmehr die Gegensätze, zwischen beiden Gruppen abzuschwächen, beide einander zu nähern, und sie unter der höheren Einheit des europäischen Konzertes zu einer gemeinsamen Politik der Friedenserhaltung zusammenzuführen, näherte sich England Deutschland; und diese ausserordentlich starke Kombination der beiden früheren Rivalen hat zweifelsohne die Gewähr für das Gelingen des Konzertes gebildet. Zugleich hat das intime Zusammenarbeiten der englischen und deutschen Politik in einer Krisis, die an schwierigen und beängstigenden Situationen und Augenblicken reich war, ein Verhältnis gegenseitigen Vertrauens geschaffen, das die allgemeine Politik der beiden Regierungen zu einander, und ebenfalls das Verhältnis der beiden Nationen und ihrer öffentlichen Meinungen nicht unbeeinflusst lassen konnte. – Wenn man die Ursachen betrachtet, die diese Wandlung herbeiführen halfen, so wird man auch den englischen Thronwechsel und die Entwickelung der politischen Tendenzen im britischen Reiche in Anschlag bringen müssen. Beides geht insofern parallel, als König Georg V. nicht wie sein Vater in europäischen, sondern in imperialistischen Interessen aufgewachsen ist, und in dieser Hinsicht der beste Repräsentant der politischen Ideen ist, die die heutige britische Generation im Mutterland und über See beherrschen. Die Tendenz des modernen Imperialismus geht dahin, möglichst viel von den vorhandenen politischen und wirtschaftlichen Kräften der Nation auf die Entwicklung und den engen Zusammenschluss des Reiches zu konzentrieren. Die britischen Kolonien streben darnach – und die gegenwärtige Generation der Imperialisten in England unterstützt sie darin – Einfluss auf die Reichspolitik zu gewinnen; und da die Kolonien keine Interessen an den Fragen des europäischen Kontinents haben, so sind sie bestrebt, die Politik des Mutterlandes aus den Verstrickungen des kontinentalen Europas zu lösen.

Die aussereuropäische Politik Englands wird hauptsächlich durch das Bestreben gekennzeichnet, die guten Beziehungen zu den Vereinigten Staaten zu erhalten, die Lord Salisbury begründet hatte. England hat dieser Politik manche Opfer gebracht. Durch den Vertrag von 1901 verzichtete es auf seine alten Rechte am Panamakanal. Es erhob ferner keinen Einspruch gegen die Befestigung des Kanals, obwohl der Vertrag nur von Polizeirechten sprach; dagegen hat die englische Regierung gegen die differentielle Behandlung der amerikanischen Schiffahrt unter dem Panamakanalgesetz protestiert, und zwar erfolgte dieser Protest auf Betreiben Kanadas, dessen eigene Schiffahrtsinteressen dadurch benachteiligt worden wären. Der letzte Fall, wo englisch-amerikanische Differenzen auf Kosten Kanadas ausgeglichen wurden, dürfte der Alaskastreit gewesen sein, denn seitdem hat England der kanadischen Regierung ein ziemlich weitgehendes Mitbestimmungsrecht in allen internationalen Fragen eingeräumt, die die kanadischen Interessen berühren. – Eine analoge Lage ist durch die Frage der Neuen Hebriden mit Bezug auf Australien entstanden. Das englisch-französische Kondominium, das 1906 begründet wurde, hat sich nichts weniger als bewährt; der herrschende Zustand führt zu beständigen Reibungen, so dass die Frage der Neuen Hebriden droht, für beide Regierungen eine ebensolche Quelle von Friktionen zu werden, wie es vordem die Frage von Neufundland war. Aber der englischen Regierung sind die Hände gebunden, da der Commonwelth von Australien jede Vermehrung des französischen Territorialbesitzes in der Südsee perhorresziert.

Bei der Reorganisation und Neuverteilung der Flotte, die Ende 1904 begann, hob England seine Stationen in amerikanischen Gewässern auf, und bekundete damit, dass es auf einen kriegerischen Austrag von Konflikten mit den Vereinigten Staaten verzichtete. Ein störendes Element kam in die englisch-amerikanischen Beziehungen, als sich das Verhältnis zwischen Amerika und Japan verschlechterte; denn der englisch-japanische Vertrag, der 1905 erneuert war, legte England die Bündnispflicht auch gegen die Vereinigten Staaten auf. Auch in den britischen Siedlungskolonien war das englisch-japanische Bündnis unpopulär geworden. Das Bündnis war ursprünglich

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 313. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/329&oldid=- (Version vom 12.12.2021)