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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

101. Abschnitt.


Russland.
Von
Dr. Otto Hoetzsch,
a. o. Professor der osteuropäischen Geschichte und Landeskunde an der Universität Berlin.


I.

Der Versuch, die politischen Ziele Russlands und die wirtschaftlichen und sozialen Tendenzen seiner heutigen Volksentwicklung darzustellen, muss seinen Ausgang vom Jahre 1905 nehmen.[1] Denn mit diesem Jahre beginnt, wie immer deutlicher hervortritt, je weiter wir uns davon entfernen, die neueste Zeit in der russischen Geschichte und beginnt eine Veränderung im Aufbau des russischen Staates, die seine Fundamente umbildet . Als der Krieg mit Japan im Februar 1904 ausbrach, war wohl bekannt, dass eine gewaltige Masse von Unzufriedenheit und Gärung im Innern vorhanden war, aber nur wenige hatten eine bestimmte Vorstellung davon, dass Fehlschläge dieses Krieges den russischen Staat so stark erschüttern könnten. Der Krieg brach aus als Abschluss einer seit über einem Jahrzehnt ununterbrochen nach dem fernen Osten gerichteten Expansion, in der man mit Japan zusammenstiess. In hochmütiger Unterschätzung des Gegners glaubte man, dass Japan vor dem Rasseln mit dem Säbel zurückweichen würde und dass dann sowohl die Mandschurei wie Korea zu dem russischen Kolonialbesitz in Ostasien endgültig hinzugefügt werden würden, auf diese Weise die Erwerbungen des 19. Jahrhunderts günstig abrundend. Aber der Gang des Krieges enttäuschte diesen Übermut sehr bald und sehr gründlich. Japan erwies sich auf dem Gebiete der Marine als unbedingt überlegen und vernichtete bei Tsushima (27./28.Mai 1905) die russische Seemacht. Und wenn auch völlig entscheidende und vernichtende Schläge der japanischen Landmacht nicht in dem gleichen Masse gelangen, so wurde Russland doch zu Lande aus Korea und der Mandschurei auf das entschiedenste zurückgedrängt. In jeder Weise erwies sich Russlands Strategie und Taktik, Intendantur und Organisation dem japanischen Gegner als unterlegen. Der Rückschlag dieser Niederlagen auf das innere Leben Russlands wurde nun deshalb umso stärker, als einmal die Vorbedingungen für einen Ausbruch der Unzufriedenheit jetzt viel weiter entwickelt waren, als seinerzeit während des Krimkrieges, und als andererseits dieser Feldzug sich fünf Vierteljahre lang hinzog, immer neue Massen von Soldaten aus der Heimat auf den fernen Kriegsschauplatz ziehend und so das europäische Reich immer stärker von militärischem Schutze entblössend.

Die Vorbedingungen für einen revolutionären Ausbruch waren 1. die Folgen der Reformen Alexanders II., 2. die Bewegung, die wir unter dem Namen Nihilismus kennen, 3. die fortgeschrittenere Kapitalisierung des Landes, die vor allem mit dem Regime des Finanzministers Witte verbunden war, und schliesslich 4. die Verbindung der nihilistischen Intelligenz mit dem Sozialismus, der als eine Folgeerscheinung der Industrialisierung naturnotwendig auch hier entstanden war.

So brach in der Folge dieses unglücklichen Krieges eine Bewegung los, die man während des Jahres 1905 geradezu als eine Revolution bezeichnete. Später erwies sich, dass diese Bezeichnung übertrieben war; von einer Revolution, wie sie Frankreich 1789 durchgemacht hat, ist auch in den schlimmsten Tagen des Jahres 1905 niemals die Rede gewiesen. So sehr alle Bande der Ordnung und Zucht rissen, so gefährlich die Streiks der Verkehrsbeamten, die Meutereien in Marine und Heer,


  1. Eine ausführliche Darstellung aller in der folgenden Skizze berührten Fragen findet sich in meinem „Russland. Eine Einführung auf Grund seiner Geschichte von 1904 bis 1912.“ (Berlin, G. Reimer 1913, 566 S.)
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 322. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/338&oldid=- (Version vom 14.9.2022)