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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

Bodenschätze zur Entwicklung einer grossen Industrie ausgebeutet worden. Von 1865 bis 1893 geht dieser immer schnellere Prozess der Industrialisierung, der nach einem bekannten Schlagworte ungeahnte Möglichkeiten zu eröffnen schien. Gefördert durch eine Schutzzollpolitik, die mit dem Mac Kinley-Tarif 1891 und dem Dingley-Tarif 1897 sich endgültig siegreich durchsetzte, konnte das Industrieleben auf die Höhe kommen, dass es nicht nur die eigenen Bedürfnisse der Bevölkerung befriedigte, sondern über die Grenzen hinausdrängte, seit 1891 mehr an das Ausland verkaufend als von ihm kaufend. Und ebenso waren die Probleme des Verfassungslebens bis zum Ende, so schien es wenigstens, gelöst. Mit dem Siege der Nordstaaten im Sezessionskriege hatten die unionistischen Tendenzen gesiegt. Zugleich mit der Beseitigung der Negersklaverei war auch der alte Kampf zwischen Einzelstaat und Bundesstaat, der drei Viertel-Jahrhunderte lang die Union erschüttert hatte, ausgekämpft worden; keiner der 46 Staaten, die heute ihre Sterne auf dem Unionsbanner sehen, denkt mehr an ein Sonderdasein, sondern fühlt sich bei aller grossen inneren Selbständigkeit seines Verfassungs- und Verwaltungslebens unbedingt als ein Glied des grossen ganzen „Empire“, an welchen Ausdruck für den Gesamtstaat man sich immer mehr gewöhnte.

So stand in strotzender wirtschaftlicher Kraft und in konsolidierten politischen Verhältnissen die Union da, als Mitte der 90er Jahre die grossen weltpolitischen Probleme auf dem ganzen Erdenball ins Rollen kamen. Die Vereinigten Staaten waren, wie Europa bald sehen musste, nicht gewillt, dabei abseits zu stehen, drängte sie doch die ungeheuer entwickelte Industrie ihres Ostens mit Gewalt dazu, an der Erschliessung der neuen Absatzgebiete für die Industrie auf der Erde mit Energie, gegebenenfalls mit militärischer Gewalt teilzunehmen. Indem aber Präsident Mac Kinley und Roosevelt – als Mandatare der sie tragenden kapitalistisch-republikanischen Kreise – ihren Staat an dieser weltpolitischen Entwicklung tatkräftig teilnehmen liessen, veränderte sich das, was man bisher die auswärtige Politik der Union und ihre politischen Ziele nannte, von Grund auf.

II. „Amerika den Amerikanern.“

Als George Washington das Befreiungswerk durchgeführt hatte, hat er seinem Lande in seiner bekannten „Lebewohladresse“ vom 19. Dezember 1796 sein politisches Testament dahingehend hinterlassen, dass Amerika sich in die Angelegenheiten Europas nicht einmischen sollte: „Seid eine Nation, seid Amerikaner und seid treu Euch selbst.“ Und diesen Grundsatz, der für die Union eine auswärtige Politik eigentlich ausschloss, hatte dann die bekannte Botschaft des Präsidenten James Monroe vom 2. Dezember 1823 als ein politisches Axiom ausgesprochen. Indem sie „Amerika den Amerikanern“ reservierte und so sich gegen jede Einmischung europäischer Staaten in die amerikanische Politik aussprach, proklamierte sie zugleich im Sinne Washingtons den Grundsatz, sich nicht in die Angelegenheiten Europas einzumischen. Das politische System der Vereinigten Staaten von heute steht ersichtlich im striktesten Gegensatz zu dieser Lehre und nimmt doch noch in Anspruch, dass es ihr vollkommen treu geblieben sei. Man hat zwar bis nach dem Sezessionskriege keine besondere auswärtige Politik getrieben, und der Grundsatz, dass Amerika nicht mehr als Gebiet der Kolonialpolitik europäischer Mächte in Frage komme, hat kein politisches Interesse mehr, seitdem der Streit mit England um die Nordwestgrenze und um Oregon entschieden ist, seitdem Alaska von Russland verkauft wurde und seitdem die früheren spanischen Kolonien selbständig geworden oder an die Union gekommen sind. Aber schon Monroe hatte in seiner Botschaft von Kontinenten gesprochen und die Interessengemeinschaft des angelsächsischen und des romanischen Amerika gegenüber Europa festgelegt. Der darin liegende politische Gedanke des sogenannten Pan-Amerikanismus ist neben ihm schon damals von Henry Clay verfochten worden, die Zusammenfassung ganz Amerikas, vom Lincolnmeer bis zum Cap Hoorn, vor allem wirtschaftspolitisch gegenüber Europa und natürlich unter Führung des Yankeeelementes. Bis in die letzte Periode herein hat freilich diese Idee, trotz begeisterter Verfechter, und einer ganzen Reihe sogenannter pan-amerikanischer Kongresse, keine reale Bedeutung gewonnen. Dagegen ist es doch gelungen, die Monroedoktrin als Grundsatz, dass die europäischen Mächte in amerikanischen Angelegenheiten – und Amerika wurde dabei im eben genannten weitesten Sinne gefasst – nicht intervenieren dürften, durchzusetzen, so wenig völkerrechtliche oder staatsrechtliche Erheblichkeit ihr eigen war, – von der Texas- und Mexikofrage (1838) an bis zu der venezolanischen (1902).

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 354. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/370&oldid=- (Version vom 20.12.2021)