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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

die Arbeitervereinigungen (von ihnen selbst meist Organisationen genannt, nach der Terminologie der Gewerbeordnung §§ 152, 153: Vereinigungen zwecks Erlangung besserer Lebens- und Arbeitsbedingungen, Koalitionen), aber auch unorganisierte Gesamtheiten durch in Volksversammlungen gewählte Vertreter sogenannte Tarifverträge ab. Während die sich bildenden Unternehmerorganisationen zunächst andere Aufgaben hatten, wie den Kampf gegen die Arbeiter (ich erinnere an Kartelle, Syndikate, Innungen) bildeten sich nun auch Arbeitgeberverbände, deren Aufgabe es sein sollte, die Arbeitsverträge im Sinne der Unternehmer zu verbessern, nötigenfalls durch Bekämpfung der Arbeiter. Während die Unternehmerverbände aber zunächst die Tarifverträge ablehnten, meist mit der Motivierung, dass die Arbeiterverbände keine genügende Garantie für ihre Innehaltung böten, sind neuerdings gerade von den Unternehmerverbänden Tarifverträge von den Arbeitern gefordert, sogar erzwungen worden, so im Jahre 1910 vom deutschen Arbeitgeberbund für das Baugewerbe.[1]

Es wurden Ende 1908 vom Kaiserlichen Statistischen Amt 5671 Tarifverträge für 120 401 Betriebe mit 1 026 385 Arbeitern, Ende 1911: 10 520 Tarifverträge für 183 232 Betriebe mit + 1 552 827 Arbeitern gezählt, aber diese Statistik ist nicht vollständig.

Die Förderung des Tarifwesens ging ursprünglich von den Arbeitern aus. Die älteste deutsche Tarifgemeinschaft, die der Buchdrucker, führt ihre Anfänge bis auf das Jahr 1848 zurück. Träger der Tarifverträge sind hauptsächlich die Gewerkschaften gewesen. Die sozialdemokratischen freien Gewerkschaften sind den Tarifverträgen gegenüber etwas zurückhaltender geworden, besonders seitdem das Erstarken der Arbeitgeberverbände die Erlangung günstiger Bedingungen für die Arbeiter erschwert hat.[2] Wie schon gesagt, haben nunmehr z. T. Arbeitgeberverbände mehrfach im Gegensatz zu den Gewerkschaften Tarifverträge gefordert. Während diese meist eine rechtliche Bindung und vermögensrechtliche Haftung der Gewerkschaften verlangen, streben die Gewerkschaften, die anfangs eine durchgreifende Rechtswirksamkeit, die autonome Schaffung von neuen Rechtssätzen, insbesondere die sogenannten Unabdingbarkeit forderten, nach einem Ausschluss jedes vermögensrechtlichen Anspruches aus den Tarifvertrag.[3] Offenbar besteht in diesem Punkte augenblicklich eine grosse Unsicherheit. Der deutsche Bauarbeiterverband scheint sein Bedenken gegen die vermögensrechtliche Bindung aufgegeben zu haben, ist aber dafür zu einer unglücklichen Fassung der Schiedsklausel gekommen.[4] Die Stellung der Gewerkschaften wird veranlasst durch die Furcht vor einer Vernichtung durch Inanspruchnahme ihres Vermögens zum Ersatze des Schadens infolge einer Lohnbewegung. Unzweifelhaft liegt die Abwendung eines solchen Schadens heut und vielleicht auch künftig gar nicht in der Macht der Gewerkschaftsvorstände, somit nicht in Abrede gestellt werden kann, dass die Gewerkschaftsleiter in einzelnen Fällen selbst schuld sind an der vertragswidrigen Verursachung von Streikschäden. Trotz der erheblichen Einnahmen der Gewerkschaften reicht deren Vermögen für die Deckung solcher Schadensansprüche, deren Höhe gegebenenfalls ganz unübersehbar ist, nicht aus und dasselbe dürfte, woran die Arbeitgeber meist nicht denken, auch bei den Unternehmerverbänden der Fall sein. Die Erhaltung der beiderseitigen Verbände erscheint aber im Interesse der Herbeiführung geregelter Beziehungen zwischen Unternehmern und Arbeiterschaft aus allgemeinen staatlichen Gründen geboten.

Ablehnend gegenüber den Tarifverträgen hält sich noch die deutsche Grossindustrie. Da aber auch sie schon mit der Arbeitervereinigungen zu verhandeln anfängt, muss sie mit Notwendigkeit auch zum Abschluss von Tarifverträgen kommen.

Von den politischen Parteien hat das Zentrum bereits 1905 und später nochmals 1908 einen Antrag auf gesetzliche Regelung der Tarifverträge gestellt. Am 11. 2. 1908 folgte die nationalliberale Partei mit dem auf dasselbe Ziel gerichteten Antrag Jungk.[5] In dem von der Regierung im


  1. Die Erneuerung der baugewerblichen Tarifverträge im Jahre 1910, herausgegeben vom deutschen Arbeitgeberverbande für das Baugewerbe (Eingetrag. Verein) Berlin 1911.
  2. cf. Braun a. a. O.
  3. Vergl. Buchdruckertarif, Tarifvertrag im deutschen Baugewerbe; Deutsche Juristen-Zeitung XVI, 852.
  4. Vergl. Gewerbe- und Kaufmannsgericht XVIII, 477 ff.
  5. Von sozialdemokratischer Seite sei der an australische Vorbilder sich anlehnende Vorschlag von Schmidt in den Sozialistischen Monatsheften 1908, S. 499 f. erwähnt. Vergl. Gen.-Vers. der Ges. f. Soziale Reform 1913.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/39&oldid=- (Version vom 6.11.2021)