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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

d. h. über das ganze Reich verbreitete Organisationen zum Abschluss von Tarifverträgen, deren Inhalt sie in gewissen Punkten festlegen.

Sowohl für die Generaltarifverträge,[1] wie für die übrigen Tarifverträge erscheint die sogenannte kombinierte Theorie am meisten Anerkennung gefunden zu haben, derzufolge sowohl die vertragschliessenden Vereine, wie deren Mitglieder unmittelbar durch den Tarifvertrag berechtigt und verpflichtet werden, die Vereine aber nicht in der Weise, dass sie ein tariftreues Verhalten ihrer Mitglieder garantieren, sondern nur ein solches in den Grenzen der Möglichkeit herbeizuführen versprechen.[2] Die Arbeitsverträge sollen nach dem Tarifvertrage ohne weiteres den durch diese vereinbarten Inhalt haben; natürlich tritt die Wirkung nur ein insoweit, als die Parteien des Einzelarbeitsvertrages nichts Gegenteiliges verabredet haben. Tarifwidrige Dienstverträge dürfen die einzelnen tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht schliessen und die vertragschliessenden Vereine dürfen solche Verträge nicht dulden. Sie sind gehalten, tarifwidrige Verträge wieder rückgängig zu machen und haften für den durch Zuwiderhandlung entstehenden Schaden. Die sog. automatische Wirkung oder Unabdingbarkeit der Tarifverträge, derzufolge die einzelnen Arbeitsverträge selbst gegen den ausdrücklichen Willen derjenigen, die diese Arbeitsverträge schliessen, einen tarifmässigen Inhalt haben sollen, wird jetzt von der Wissenschaft und Praxis überwiegend abgelehnt und ist – wie die Reichsregierung anerkannt hat – für die Gesetzgebung nicht brauchbar. Der Tarifvertrag hat aber unbestreitbar die Neigung, seine Wirkung auf alle Angehörigen eines bestimmten Gewerbes oder eines abgegrenzten Teiles desselben innerhalb eines räumlichen Gebietes für die Dauer seiner Geltung auszudehnen. Jeder Vertragsteil ist daher für die Regel bereit, jedem Dritten die Vorteile aus dem Tarifvertrage gegen Übernahme der Pflichten aus demselben zuzugestehen. Der Inhalt des Tarifvertrages bildet sonach auch eine Offerte an die genannten Personen, welche die Tarifparteien dieser dritten Personen zugleich mit dem Abschluss des Tarifvertrages machen. Auf demselben Grunde beruht eine weitere – an sich nicht eigenartige – Wirkung, dass der Inhalt längere Zeit dauernder und von der grossen Mehrheit der Angehörigen eines Gewerbes befolgter Tarifverträge als Auslegungsregel für die Verträge der übrigen Angehörigen dieses Gewerbes dienen kann. Die Arbeitsordnung gemäss § 134 B. G. B. bildet eine Klausel der Dienstverträge eines bestimmten Betriebs. Sie kann aber in einigen Punkten nicht durch Vertrag abgeändert werden, also auch nicht durch den Tarifvertrag. Der tarifgebundene Arbeitgeber hat aber die Verpflichtung, so weit dies rechtlich in seiner Macht steht, seine Arbeitsverträge in Übereinstimmung mit dem Tarifvertrag zu bringen. Da nicht immer alle Arbeiter eines Betriebes unter den Tarifvertrag fallen, so kann von einer Einwirkung des Tarifvertrages auf die Arbeitsordnung soweit diese Arbeiter in Betracht kommen, natürlich gar keine Rede sein. Die Arbeitsverträge der übrigen Arbeiter und folglich die auf der Arbeitsordnung beruhenden Klauseln dieser Arbeitsverträge unterliegen derselben Einwirkung durch die Tarifverträge, wie andere Arbeitsverträge, nur mit der einen Einschränkung, dass der nach dem Gesetz unabänderliche Teil der Arbeitsordnung dem Tarifvertrag stets vorgeht.

Durch den Tarifvertrag wird in vielen Fällen eine Tarifgemeinschaft begründet mit dem Zwecke, eine Reihe den Parteien des Tarifvertrags gemeinsamer Ziele durch gemeinschaftliche Betätigung zu befördern, dahin gehört die Durchführung, Fortbildung und Ausdehnung des Tarifvertrags, die Schlichtung und Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten,[3] die Arbeitsvermittlung,[4]


  1. Beispiele die Tarifverträge im deutschen Baugewerbe von 1010 u. 1913.
  2. Reichsgerichts-Entscheidung abgedruckt im Zentralblatt der christlichen Gewerkschaften Deutschlands, 1912 Nr. 4 S. 57 f (ohne Datum) i. S. Schütt gegen den Zentralverband christlicher Holzarbeiter.
  3. Dieser kann z. B. in der Verursachung eines Lohnkampfes durch ein derartiges tarifwidriges Verhalten einzelner bestehen. Dann ist die Höhe des zu ersetzenden Schadens unübersehbar. Der Tarifbrüchige ist daher in einem solchen Falle der Gefahr vollständiger wirtschaftlicher Vernichtung ausgesetzt, gewiss ein genügender Schutz der Tarifverträge! cf. Urteil des Gewerbegerichts Berlin vom 7. 7. 1909. Das Gewerbe-Kaufmannsgericht XV. 36. Schriften der Ges. f. Soz, Reform Nr. 42 ff.
  4. S. Wölbling. Soziale Praxis, XXIII. Ders., Gewerbe-Kaufmannsgericht XVIII, 529. Ders., Mitteilungen der Zentralstelle des deutschen Städte-Tages, IV. 11–14. Ders., Voss. Zeitung vom 13. u. 18. 9. 1913.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 25. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/41&oldid=- (Version vom 6.11.2021)