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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

Als eine sehr wichtige Neuerung muss bezeichnet werden die Zusammenfassung aller das Verfahren betreffenden Vorschriften in einem besonderen Buche der R.V.O. Die vielfach zerstreuten Vorschriften sind nunmehr auf eine einheitliche Grundlage gebracht, und es ist kein Zweifel, dass sie sich um so eher bewähren werden; je mehr man der Tendenz des Gesetzgebers entgegenkommt, hier einen gänzlich neuen Prozess in seiner Eigenart zu begreifen und auszubauen. Neben den Zivil- und Strafprozess trat schon seit geraumer Zeit ein besonderer Verwaltungsprozess; eine Spezialität des Verwaltungsprozesses ist der in der R.V.O. eingeführte.

Endlich sei in dieser überschauenden Betrachtung nur noch darauf hingewiesen, dass auch die Beziehungen zwischen den einzelnen Versicherungsarten engere geworden sind, und dass darauf Bedacht genommen wurde, die Leistungen dort, wo sie zeitlich sich aneinander schliessen, auch sachlich in engere Verbindung zu bringen. So leitet z.B. die Krankenhilfe über in die Unterstützung seitens der Berufsgenossenschaft, wenn es sich um einen Unfallverletzten handelt. Ein weitgehendes Heilverfahren sichert eine vorbeugende Fürsorge in all denjenigen Fällen, bei denen eine Unterlassung zu starker Belastung der Zukunft in finanzieller Beziehung führen müsste.

Betrachtet man zunächst in allgemeinen Umrissen das vorliegende Ergebnis, so wird man ohne Übertreibung sagen können, dass ein grosses Gesetzgebungswerk geschaffen worden ist. Mancher berechtigte Wunsch ist nicht erfüllt worden; manches wird sich aber noch im Laufe der Zeit trotz der Kodifikation durchringen. Die Gelegenheit zu Besserungen ist in mehr als einem Punkte verabsäumt worden, und sozialpolitisch vorgeschrittene Kreise bedauern lebhaft die eine oder die andere Massregel. Aber im ganzen ist das Gesetzeswerk von nicht zu unterschätzender Tragweite und wird auch zweifellos für die Weiterbildung des sozialen Rechtes in anderen Staaten Gegenstand von Vergleichen, z. T. wohl auch der Nachahmung sein.

Die weiteren Betrachtungen führen uns zunächst auf die

II. Reform der Krankenversicherung

im besonderen.

1. Die Grundfrage der Versicherungspflicht hat eine juristisch bemerkenswerte Änderung erfahren. Zu ihren Merkmalen gehörte erstens eine Reihe von subjektiven Momenten: es mussten Arbeiterpersonen in Betracht kommen, Gesellen, Gehilfen, Lehrlinge oder ungelernte Arbeiter, aber auch die den Arbeitern in wirtschaftlicher Beziehung nahestehenden Personen, wie Betriebsbeamte, Werkmeister und Techniker jeglichen Geschlechts; all diese mussten in einem gesetzlich erlaubten Betriebe freiwillig beschäftigt sein; es musste ein Beschäftigungsverhältnis vorliegen, dauernd und mit Gehalt oder Lohn verbunden. Betriebsbeamte, Werkmeister und Techniker unterlagen der Versicherungspflicht nur dann, wenn ihr jährliches Arbeitsverdienst 2000 Mk. nicht überstieg. Zu diesen subjektiven Momenten trat noch ein objektives Moment: es musste die Beschäftigung in einem versicherungspflichtigen Betriebe erfolgt sein. Die R.V.O. bringt in dieser letzteren Beziehung eine Änderung. Es werden nach § 165 für den Fall der Krankheit Gruppen von Personen versichert ganz ohne Rücksicht auf einen bestimmten Betrieb. Indem man den Grundsatz des § 1 K.V.G., der die Versicherungspflicht von der Zugehörigkeit zu bestimmten Betrieben abhängig macht, verlässt und die Versicherung allgemein auf alle Personenkategorien erstreckt, die im § 165 angegeben sind, wird man auch zur Durchführung dieser Neuerung die Person des Versicherten selbst in starkem Grade zur Mitwirkung bei den Aufgaben heranziehen müssen, die seine Versicherung mit sich bringt. Es muss freudig begrüsst werden, dass man dem Arbeiter selbst für mündig erklärt, dass man den Grundsatz wenigstens durchbrechen will, dass an sich der Arbeitgeber zur Übernahme und Erfüllung der Anmelde- und Einzahlungspflicht geeigneter ist als der Versicherte. Die R.V.O. will für grosse Gruppen von Arbeitern, insbesondere für alle unständigen Arbeiter, die Anmeldung durch sie selbst bewirkt wissen, aber, falls sie ihrer Pflicht nicht genügen, soll dafür gesorgt sein, dass sie gleichwohl von der Versicherung erfasst werden (§§ 442ff.) Immerhin wird der Beginn der Unterstützungspflicht für diese Art der Versicherung geknüpft an die Tatsache der Eintragung in ein Mitgliederverzeichnis, nicht mehr an die des Beginns des Beschäftigungsverhältnisses.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/47&oldid=- (Version vom 7.11.2021)