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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

Grundsatzes dargetan hat. Es ist ein geradezu unbegreiflicher Zustand, dass sich als Träger der reichsgesetzlichen Krankenversicherung im Reiche nach der im Kaiserlichen Statistischen Amte bearbeiteten Statistik für 1909 ausser den Knappschaftskassen nicht weniger als 23 279 Gebilde verschiedener Art, Gemeindekrankenversicherungen, Orts-, Betriebs- (Fabrik-), Bau- und Innungskrankenkassen, zugelassene freie Hilfskassen und landesrechtliche Hilfskassen befanden. Dabei ist die Mitgliederzahl ganz ausserordentlich verschieden. Neben Kassen, die Zehntausende von Mitgliedern aufweisen, finden sich zahlreiche Kassen mittlerer Grösse, daneben aber auch in unverhältnismässig grosser Zahl Zwergkassen von weniger als 100 Mitgliedern. So besassen im Jahre 1903 von je 100 aller Kassen einschliesslich der Gemeindekrankenversicherung 44,6 weniger als 100 und 92,1 weniger als 1000 Mitglieder, nur 1,1 Prozent dieser Kasseneinrichtungen zählten mehr als 5000 Mitglieder. Es gibt noch Zwergkassen, die noch lange nicht 100 Mitglieder zählen. Unter der übermässigen Zersplitterung leidet die Leistungsfähigkeit der Kassen, leiden die Versicherten selbst.

Eine der wichtigsten Fragen betrifft die Berechtigung der Erhaltung der Betriebskrankenkassen. Über ihre Vor- und Nachteile ist sehr viel gestritten worden (vgl. meine Aufsätze in Reformblatt der Reichsversicherung 1907 S. 127ff., 144ff., 217ff.). Alles in allem wird man Vorteile und Nachteile der Betriebskrankenkassen im Gleichgewicht finden können. Individuelle Erfahrungen mit der einen oder anderen Betriebskrankenkasse, werden je nach ihrem günstigen oder ungünstigen Befunde Urteile der Interessenten leicht zu bestimmen geeignet sein. Jedoch kommt es auch hier auf den Durchschnitt an und es ist für die Allgemeinheit nur wichtig, was im grossen und ganzen als Vorzug oder Nachteil der Betriebskrankenkassen angesehen werden muss. Ich für meinen Teil bin auf Grund der obigen Erwägungen und Feststellungen, sowie infolge meiner Kenntnis einer grossen Zahl von wichtigen Betriebskrankenkassen durchaus dafür, diese Krankenkassenform auch in Zukunft zu erhalten. Es war gerechtfertigt, dass die R.V.O. sie beibehielt.

Die Beibehaltung der Innungskrankenkassen war eine Frage der Opportunität. Das Gesetz hat festgelegt, dass die von den Innungskrankenkassen zu gewährenden Leistungen denjenigen entsprechen müssen, welche die das meiste leistende Ortskrankenkasse an dem betreffenden Orte gewährt. Die R.V.O. hat hinsichtlich der Zentralisation die Innungskrankenkassen ebenso behandelt, wie die Betriebskrankenkassen. (Vgl. §§ 250–254, 256, 257 R.V.O.; Art. 17, 18, 23 E.G.)

Die knappschaftlichen Krankenkassen stellen eine Versicherungsform dar, die den besonderen Verhältnissen des Bergbaues und der Bergarbeiter entspricht. Hieran konnte wenig geändert werden (§§ 495ff.). Zu wünschen wäre nur ein Reichsberggesetz, aber auch dieses könnte in der hier fraglichen Beziehung wohl kaum etwas anderes bringen, als das preussische Knappschaftsgesetz vom 17. Juni 1912. Die meisten deutschen Einzelstaaten haben sich ja ohnedies dem Vorbild des preussischen Berggesetzes angeschlossen.

Keine Zweifel bestanden hinsichtlich der Aufhebung der Gemeindekrankenversicherung. Sie hatte die geringsten Leistungen und wies den Mangel an Selbstverwaltung auf. Immer müsste man die Gemeindekrankenversicherung als Grundbeispiel dafür aufzeigen, wie wenig entwicklungsfähig eine Krankenkasseneinrichtung ist, die der selbstgewollten Tätigkeit der Versicherten entbehrt.

Das Gesetzbuch schuf neu die Landkrankenkassen. Die R.V.O. zeigt hierbei den Fehler, dass die Selbstverwaltung nicht voll gewährt ist (§§ 226ff., 235, 327ff.). Der Name wurde mit Rücksicht darauf gewählt, dass der Hauptbestandteil der Mitglieder der neuen Kasse aus landwirtschaftlichen Arbeitern bestehen soll. Es kann die Landesgesetzgebung allerdings bestimmen, dass für das Gebiet oder Gebietsteile des Bundesstaats keine Landkrankenkassen neben den allgemeinen Ortskrankenkassen errichtet werden (§ 227; vgl. auch §§ 228–232).

Die Hauptform der Kassen bleibt die Ortskrankenkasse. Sie soll für örtliche Bezirke (eine grössere Stadt oder ein grösserer Kreis, wie Amtshauptmannschaft, Oberamt) errichtet werden. Sie ist, wie auch die Landkrankenkasse, in der Regel innerhalb des Versicherungsamtsbezirks zu errichten. Im übrigen geht das Gesetz nicht radikal genug vor, indem es die vollständige Aufhebung der auf der Berufsgemeinschaft beruhenden Ortskrankenkassen nicht vorsieht. Doch sind die örtlich abgegrenzten Kassen als Grundpfeiler der Gesamtorganisation des Krankenkassenwesens

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 34. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/50&oldid=- (Version vom 7.11.2021)