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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

und an eine Reihe von Arbeitswochen knüpft, eventuell auch noch die Dauer der Unterstützung von der Arbeitsdauer abhängig macht. Sodann ist eine Karenzzeit des arbeitslos Gewordenen z. B. von einer Woche nützlich, damit dieser einige Zeit aus eigenen Mitteln leben muss und zugleich die Versicherung von einer Menge kleiner Fälle entlastet wird. Unerlässlich ist, nicht den ganzen Lohn, sondern nur eine nicht zu grosse Quote (höchstens ¾) zu gewähren, eventuell diese mit der Dauer des Bezugs noch sinken zu lassen, bis sie nach einer bestimmten Reihe von Wochen ganz aufhört. Unbedingt muss der Arbeitslose jederzeit passende Arbeit, die ihm nachgewiesen wird, annehmen und damit seine Arbeitswilligkeit beweisen. Die Versicherung muss sich deshalb auf einen sehr vollkommen ausgebildeten Arbeitsnachweis stützen. Die Fortdauer der Arbeitslosigkeit muss auch kontrolliert werden, was am besten durch ein- oder zweimaliges Erscheinen des Arbeitslosen im Arbeitsnachweis und Zurückbehalten der Invalidenkarte geschehen kann. Diese Massregeln dämmen die Versuchung, eine Zeit lang zu feiern oder überhaupt auf Kosten anderer zu leben, so ein, dass man die Schuldfrage in den Hintergrund treten und nur die gröbsten Verstösse sowie Streiks und Aussperrungen, für welche die Arbeiter ohnehin besonders sorgen, als Ausschliessungsgrund gelten lassen kann. Immerhin bleiben auch dann noch manche Schwierigkeiten. Es gibt Berufe, wie Ausläufer, häusliche und die weit verbreitete hausindustrielle Arbeit, die der Kontrolle, ob Arbeitslosigkeit vorliegt, sich nicht fügen; auch die Frage der passenden Arbeit, die angenommen werden muss, ist gegenüber widerwilligen Leuten nicht einfach zu lösen; eine einwandfreie Abstufung des Risikos ist bei den fortwährenden Schwankungen und Änderungen des Erwerbslebens schwer zu finden, ohne solche wirkt diese Versicherung aber leicht verletzend; es ist besonders misslich, dass je wirksamer die oben erwähnten Kautelen sind, die Versicherung ihren Zweck umsomehr wieder einbüsst. Bei den deutschen Arbeitnehmerverbänden, welche doch gewiss den Vorwurf der Unbilligkeit ablehnen werden, waren in den 8 Quartalen der Jahre 1911 und 1912 43,9–54% der arbeitslos gemeldeten versicherten Mitglieder nicht bezugsberechtigt. Eine unangenehme Begleiterscheinung dieser Versicherungsart ist auch, dass das Streben des Arbeitslosen, selbst Arbeit zu finden, abgeschwächt wird, was zu einer gewissen Demoralisation führen kann.

Die bisher gemachten praktischen Versuche stellen denn auch keine befriedigende Lösung des Problems dar.

Fakultative allgemeine Versicherungen wurden in Bern (1893), Köln (1896), Leipzig (1905), Basel (1901), Genf (1904), Venedig (1902) ins Leben gerufen. Die venetianische Arbeitslosenkasse musste wegen zu geringer Kautelen ihre Tätigkeit bald einstellen, die Genfer konnte sich infolge der Angriffe seitens der organisierten Arbeiter nicht recht entwickeln; die Leipziger Kasse ist vom evangelischen und katholischen Arbeiterverein gegründet, hat aber nur eine geringe Zahl Versicherter. Die Berner – und bis zum Jahr 1911 galt dies auch für die Kölner Kasse, die ihre Versicherung jetzt auf das ganze Jahr erstreckt und auch den Berufsvereinen der Arbeitnehmer eine Rückversicherung gewährt – berücksichtigt bloss die Arbeitslosigkeit im Winter; es versichern sich infolgedessen bei ihr nur solche, welche mit grosser Wahrscheinlichkeit in den betreffenden Wintermonaten arbeitslos zu werden befürchten müssen, hauptsächlich Erd- und Bauarbeiter und Arbeiter, die mit dem Baugewerbe in engerer Fühlung stehen. Die Beiträge sind bei freiwilliger Versicherung wenig steigerungsfähig; sie decken gewöhnlich nicht einmal die Hälfte der Versicherungssumme, diese Art von Versicherung kann deshalb ohne beträchtliche Zuschüsse von seiten der Gemeinde und sonstiger Wohltäter nicht existieren. Auch in Basel, wo der Arbeiterbund 1901 eine Versicherungskasse schuf, wurden ähnliche Erfahrungen gemacht. Arbeiter mit geringem Risiko hielten sich fern, viele blieben auch mit ihren Beiträgen im Rückstand, der grösste Teil liess sich dann streichen.

Grössere Bedeutung kann die gewerkschaftliche Arbeitslosenversicherung beanspruchen. Sie hat sich aus den Lohnkämpfen herausgebildet. Die Arbeiterorganisationen unterstützten ihre Mitglieder im Falle eines Streiks; sie dehnten die Unterstützung im weiteren Verlauf auch auf nicht streikende Arbeitslose aus; durch die Reiseunterstützung entlastete man den lokalen Arbeitsmarkt und pflegte den Zusammenhang im Gesamtverband; es lag nahe, den am Ort ansässigen Arbeitslosen ebenfalls eine Unterstützung zu bieten. Die Arbeitslosenversicherung trägt dazu bei,

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/70&oldid=- (Version vom 12.11.2021)