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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

schon seit längerer Zeit geübt wird, der Bestand an städtischen Wohnungen 1910 auf nicht ganz 1000 gleich etwa 5% der Gesamtzahl. In qualitativer Hinsicht mögen die Wohnungen in den auf städtischem Boden gebauten Häusern vielfach Vorbildliches bieten – auch in dieser Hinsicht sind aber z. B. aus Freiburg i. B. Klagen laut geworden –, in quantitativer Hinsicht hat die öffentliche und gemeinnützige Bautätigkeit bisher noch keine erhebliche Bedeutung erlangt, namentlich hat sie die Grösse des Gesamtwohnungsangebots bisher nur wenig zu beeinflussen vermocht. Es lässt sich nicht sagen, dass in den Städten, in denen die öffentliche und die gemeinnützige Bautätigkeit besonders stark sich entfaltet haben, das Wohnungsangebot etwa regelmässig reichlich gewesen und vor solchen Schwankungen bewahrt geblieben sei, wie sie andere Orte zeigen.

Man nimmt ja an, dass, wenn normale Verhältnisse auf dem Wohnungsmarkte herrschen sollen, der Vorrat an leerstehenden Wohnungen etwa 3% betragen müsse, dass dies die rechte Mitte zwischen Wohnungsmangel und Wohnungsüberfluss bedeute; die Erhebungen über leerstehende Wohnungen, welche in den meisten Grossstädten jetzt regelmässig periodisch veranstaltet werden, zeigen indessen, dass nur im Durchschnitt längerer Perioden sich tatsächlich ungefähr ein Wohnungsvorrat von dieser Höhe ergibt. Der wirkliche Zustand ist dadurch gekennzeichnet, dass in mehrjährigem Turnus Überangebot und Minderangebot von Wohnungen mit einander wechseln. In Berlin stieg beispielsweise der Wohnungsvorrat von 2,6% i. J. 1890 auf 6,85% i. J. 1895, von da ab fiel er wieder, bis er 1901 nur noch 1%, betrug. Seitdem ist er wieder ununterbrochen gestiegen und hatte 1910 5% erreicht.[1] Wegen dieser Wellenbewegungen des Wohnungsmarktes ist die private Bautätigkeit heftig angeklagt worden; sie werden als ein Beweis für ihre Unfähigkeit, die Wohnungsproduktion rechtzeitig dem Bedarf anzupassen, hingestellt. Solange indessen das gesamte Wirtschaftsleben in der modernen Volkswirtschaft den bekannten zwischen Aufschwung und Niedergang hin und her pendelnden Rhythmus der Entwicklung zeigt und so lange im Zusammenhang hiermit namentlich auch die Entwicklung der Städte zwischen Jahren des stürmischen Wachstums der Einwohnerzahl und Jahren des Bevölkerungsstillstandes oder sogar der Mehrabwanderung hin- und her schwankt, woraus eine ausserordentliche Ungleichmässigkeit des jährlichen Wohnungsbedarfs sich ergibt, wird es kaum zu erreichen sein, dass der Wohnungsmarkt von diesen Schwankungen frei bleibt. Gegenüber den Folgen welche die unveränderte Aufrechterhaltung eines Wohnungsvorrats von 3% bei jeder Lage nach sich ziehen müsste, erscheint sogar der heutige Zustand, bei dem gewöhnlich gerade bei nachlassendem Wohnungsbedarf die Bautätigkeit besonders lebhaft sich gestaltet und umgekehrt, immer noch als das kleinere wirtschaftliche Übel. Die gemeinnützige Bautätigkeit hat jedenfalls bisher nicht vermocht, hierin wirklich Wandel zu schaffen und wird ihrer Natur nach auch in Zukunft hierzu kaum imstande sein. Auch in den Kreisen der Wohnungsreformer gehen daher jetzt die Bestrebungen vielfach dahin, die Bautätigkeit allgemein, nicht bloss die gemeinnützige und baugenossenschaftliche, zu fördern und zu unterstützen, insbesondere durch Verbilligung der Kreditgewährung, wobei es sich hauptsächlich um erleichterte Beschaffung der zweiten Hypotheken handelt, ferner aber auch durch Beseitigung der Schwierigkeiten, welche manche Gemeinden durch Handhabung des sog. kommunalen Bauverbots der privaten Bautätigkeit namentlich in den Aussenbezirken in den Weg legen.[2]

III. Wohnungsordnungen und Wohnungs-Inspektion. Die künftige Entwicklung des städtischen Wohnungswesens.

Neben der kommunalen Bodenpolitik ist in den deutschen Grossstädten noch ein zweiter Zweig der städtischen Wohnungspolitik zu grösserer Bedeutung gelangt, die sog. Wohnungspflege, die in dem Erlass von Wohnungsordnungen sowie in der Einrichtung einer Wohnungsinspektion sich äussert. Schon Ende 1906 belief sich die Zahl der in Deutschland von Staats- oder Kommunalbehörden


  1. Weitere Zahlen siehe in meiner Wohnungsfrage Bd. I, S. 107ff.
  2. Über die Schwankungen der Wohnungsnachfrage und der Wohnungsproduktion vgl. insbesondere meine Wohnungsfrage, Bd. 1, S. 102ff. Vgl. auch Joh. Feig und Wilhelm Mewes, Unsere Wohnungsproduktion und ihre Regelung, Göttingen 1911. – Über die Bedeutung des kommunalen Bauverbots vergl. Piutti Bredt, Das kommunale Bauverbot, Marburg 1909.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/82&oldid=- (Version vom 13.11.2021)