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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

dass dabei vielfach der Anteil des Wohnungsaufwandes an den Gesamtausgaben steigt, – nach der amtlichen Erhebung von Wirtschaftsrechnungen minderbemittelter Familien im deutschen Reiche betrug der Wohnungsaufwand

in der Einkommensstufe       bei Arbeiterfamilien       bei Beamten- und Lehrerfamilien
von 1200–1600 Mk. 16,8% 20,5%
von 1600–2000 Mk. 17,7% 18,5%
von 2000–2500 Mk. 17,0% 18,9%
von 2500–3000 Mk. 15,5% 19,4%
von 3000–4000 Mk. 13,9% 19,3%

– diese Erscheinung des relativen Wachsens des Anteils der Miete am Einkommen darf nicht, wie das häufig geschieht, ohne, weiteres als eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der Mieter gedeutet werden. Für die Beurteilung der Lage der letzteren kommt es weniger darauf an, wie sich der Anteil der Miete am Einkommen entwickelt, sondern vielmehr hauptsächlich darauf, wieviel der Mieter nach Deckung des Mietsaufwandes zur Bestreitung seiner sonstigen Bedürfnisse noch übrig behält. In dieser Beziehung kann aber kein Zweifel bestehen, dass der Arbeiter in der Grossstadt, selbst wenn er da einen höheren Bruchteil seines Einkommens für Miete aufwenden muss als in kleineren Orten, sich trotzdem in der Regel ökonomisch besser stehen wird, weil er eben nach Abzug der Miete im ganzen mehr übrig behält als früher. Bei den wachsenden Mietausgaben ist ferner zu berücksichtigen, dass sie häufig durch eine bessere Befriedigung des Wohnbedürfnisses entstehen, indem dem höheren Mietanfwand auch eine grössere oder wenigstens eine besser ausgestattete Wohnung entspricht. Auch bei den Kleinwohnungen sind in letzter Zeit die Ansprüche an die Wohnung sehr erheblich gestiegen.[1]

Das Wachsen des Volkswohlstandes, das allgemeine Vorrücken der Bevölkerung auf den Einkommenstufen genügt indessen noch nicht, um eine durchgreifende Besserung der Wohnungsverhältnisse zu erzielen. Es gehört dazu auch Zunahme des Verständnisses für den grossen Wert einer gesunden Wohnweise, es muss die Neigung weiter Volkskreise schwinden, gerade an der Wohnung zu sparen. Wenn die Wohnungszustände sich heben sollen, daun müssen nicht nur die Wohnungen besser werden, sondern auch die breite Masse der Bevölkerung muss anders denken lernen. Insbesondere die von vielen Seiten erstrebte, stärkere Dezentralisation der Städte, die allein imstande ist, den Grossstadtmenschen wieder der freien Natur näher zu bringen und ihn aus der Unruhe und dem Lärm der Grossstadt heranszuführen, wird sich nur erreichen lassen durch das Vordringen einer anderen Denkweise bei den Grossstadtbewohnern, die sie andere Ansprüche an ihre Wohnung stellen lässt als heute. Die Gemeindeverwaltungen können durch eine grosszügige Eingemeindungspolitik, durch Schaffung guter Verkehrsverbindungen, durch ihre Strassenbau- und Bodenpolitik etc. wohl bessere Vorbedingungen hierfür schaffen, die Bewegung selbst aber muss aus der Initiative der Grossstadtbevölkerung entstehen, indem sich diese viel mehr als bisher geneigt zeigt, an die Peripherie der grossstädtischen Siedlungskreise zu ziehen.[2]




  1. Vgl. z. B. die in der Zeitschrift für Sozialwissenschaft, N. F. 1. Jahrg. S. 52 hierzu mitgeteilten Äusserungen aus Berlin.
  2. Treffend auseinandergesetzt bei W. Gemünd, Die Grundlagen zur Besserung der städtischen Wohnungsverhältnisse, Berlin 1913. Diese Schrift bietet eine eingehende Untersuchung über die Voraussetzungen einer Dezentralisation der Städte und ihre Durchführbarkeit in Deutschland.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 68. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/84&oldid=- (Version vom 13.11.2021)