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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

der ländlichen Arbeiterfrage, Hebung der hier kulturell so ausserordentlich tiefstehenden Landarbeiterklasse und als Hauptmittel dafür: Förderung der inneren Kolonisation.

Dann aber hat die Bewegung für ländliche Wohlfahrtspflege auf den Nordwesten, das Gebiet der Grossbauern, die Heimat Sohnrey’s, hinübergegriffen. Hierdurch ist eine wesentliche Änderung ihrer Aufgaben und Ziele bewirkt worden: ihre Ausdehnung auf die bäuerliche Bevölkerung, das Bestreben, die bäuerliche Eigenart in Tracht, Sitte, Gebräuchen, Festen etc. zu erhalten, – die Entwicklung der ländlichen Wohlfahrtspflege zur Heimatpflege.

Erst neuerdings ist auch ihre Ausdehnung auf den Südwesten erfolgt, als die Flucht vom Lande infolge der jüngsten mächtigen industriellen Entwicklung auch diesen ergriffen hatte, auch hier ein Mangel an Arbeitskräften und die sonstigen unerfreulichen Erscheinungen dieser Entwicklung sich fühlbar machten. So ist 1902 der badische „Verein für ländliche Wohlfahrtspflege“ (jetzt aufgegangen in dem Verein „Badische Heimat“) und 1905 der „Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege in Württemberg und Hohenzollern“ entstanden.

Nun haben wir aber hier in Baden und Württemberg nicht eine, einheitliche Agrarverfassung, vielmehr zwei der oben geschilderten Formen nebeneinander: im grössten Teile des Landes, im ganzen ebenen Baden, insbesondere im Unterland und ebenso in Alt-Württemberg herrscht jene „südwestdeutsche Agrarverfassung“: Kleinbauern und Freiteilbarkeit. Baden ist neben den Rheinlanden geradezu das klassische Land für diese Verfassung, ihre klimatischen Voraussetzungen sind hier ganz besonders gegeben. Daneben steht aber im Südosten und Süden, im grössten Teile des Schwarzwaldes und in Oberschwaben, eine ganz andere Verfassung, die des Südostens: grössere Bauerngüter, – nicht so gross allerdings wie im Nordwesten, sondern meist nur sog. mittelbäuerliche Betriebe, aber wie dort „geschlossen“ d. h. nicht freiteilbar, vielmehr immer nur an einen Erben, und zwar in Baden den jüngsten Sohn, vererbend, die hier sog. „geschlossenen Hofgüter“. Sie sind in Baden in 15 Amtsbezirken, so besonders in den sechs: Gengenbach, Triberg, Waldkirch, Wolfach, Oberkirch und Freiburg, überwiegend und im ganzen gesetzlich festgelegt auf 4943; dazu kommen aber auch noch namentlich im südlichen Schwarzwald Gebiete mit blosser Anerbensitte, ohne solches Anerbenrecht. Ähnlich wie bei letzteren steht es im südlichen Württemberg.

In diesen beiden Gebieten Badens und Württembergs ergeben sich nun sehr verschiedene Aufgaben und Möglichkeiten für die ländliche Wohlfahrtspflege. Diese will ja im ganzen immer ein doppeltes:

1. der Landbevölkerung Anteil geben an der modernen Kultur, ihre Lage heben und verbessern und damit die Landflucht hemmen, so dass nur der wirkliche Überschuss der Bevölkerung des Landes in die Städte wandert; und

2. der Landbevölkerung die Eigenschaften erhalten und stärken, auf denen ihre besondere Bedeutung für den Staat, für die Nation, für die Gesundheit des ganzen Volkes, als „Jungbrunnen“ desselben, beruht. Beides steht durchaus nicht im Widerspruch, aber aus dem zweiten Grunde gilt es allerdings die Auswüchse der modernen Kultur fernzuhalten.

Dies ist nun im ersten Gebiet, im Kleinbauerngebiet, die Hauptaufgabe: hier, wo keine strenge Scheidung zwischen Stadt und Land besteht, kommt die städtische Kultur nur zu leicht und zu rasch auf das Land, auch mit allen ihren Auswüchsen. Hier ist daher das Zurückdämmen der letzteren, die Fürsorge für Verschmelzung der guten alten ländlichen Kultur mit den guten Bestandteilen der neuen städtischen die Aufgabe. Dabei wird natürlich die bäuerliche Eigenart, die hier überhaupt längst nicht mehr so stark ausgesprochen vorhanden ist, wenig mehr zu erhalten sein. Hier geht die ländliche Wohlfahrtspflege ferner zum Teil auf in der Fürsorge für die unteren Klassen der Industriebevölkerung, die auf dem Lande wohnen, besonders in der Wohnungsfrage für diese.

Anders dagegen im zweiten Gebiet, dem der Hofesverfassung: hier ist heute noch diese ganze Eigenart in Tracht und Sitte stark vorhanden, hier haben wir noch wirklich rein bäuerliches Wesen. Hier gilt es nun, dieses, soweit es noch lebensfähig ist, mit allen Mitteln zu erhalten, weil gerade darauf die verjüngende Kraft des Bauernstandes beruht. Hier ist aber ausserdem andererseits dafür zu sorgen, dass dem von der städtischen Kultur und ihren Hilfsmitteln bei Krankheit

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 71. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/87&oldid=- (Version vom 13.11.2021)