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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

Hier liegt auch eine grosse Aufgabe der anderen Klassen, der Ärzte, Lehrer usw., überhaupt der Gebildeten auf dem Lande vor.

Nicht eigentlich zur Wohlfahrtspflege nach unserer Definition gehörig sind die verschiedenen Massregeln auf dem Gebiet des Löhnungswesens: Art und Weise der Löhnung, namentlich Aufrechterhaltung und Wiedereinführung der Naturallöhnung, welche hier eine Interessengemeinschaft zwischen Arbeitgeber und Arbeiter bedeutet, Beteiligung am Reinertrag usw. Dagegen ist die Einrichtung von Konsumanstalten, welche, wie der Sohnrey’sche Wegweiser zeigt, in den verschiedensten Formen versucht worden ist, auch ein wichtiges Mittel der ländlichen Wohlfahrtspflege in der Lösung der ländlichen Arbeiterfrage; ebenso die Förderung der Ziegenhaltung, die Bekämpfung der Trunksucht und die Hebung der Bildung und des geselligen Lebens, auf welch letztere in grösserem Zusammenhang zurückzukommen ist.

Das Hauptmittel für die Lösung der ländlichen Arbeiterfrage im deutschen Nordosten und zugleich für die Hebung der Landflucht ist und bleibt aber die Änderung der Grundbesitzverteilung, die „innere Kolonisation.“ Denn die Abwanderungen sind, wie Sering unanfechtbar nachgewiesen hat, auch im Nordosten selbst wieder am grössten aus den Gebieten, wo der Grossgrundbesitz am meisten vorherrscht, und nur eine einschneidende Änderung der Grundbesitzverteilung kann hier Wandel schaffen.

Eine solche ist vor allem durch die Ansiedlungskommission in den Provinzen Posen und Westpreussen und daneben, aber in weit geringerem Masse, durch die Generalkommissionen in allen östlichen Provinzen Preussens schon in einem gewissen Umfang bewirkt worden. Durch letztere sind bis Ende 1910 im ganzen 16 859 Rentengüter mit 193 386 ha gebildet worden, davon 14 048 mit 172 901 ha in den 6 östlichen Provinzen. Von letzteren sind 11 129 (79,3%) neue Stellen, 2 917 (20,7%) durch Zukäufe spannfähig gemachte. Dazu kommen 18 127 Stellen mit 265 249 ha, welche von der Ansiedelungskommission bis Ende 1910 geschaffen worden sind. So ergibt sich im ganzen eine Vermehrung des Kleingrundbesitzes in den 6 östlichen Provinzen Preussens um 32 175 Stellen und 438 150 ha. Das ist etwa das Vierfache der Fläche, welche die spannfähigen Bauerngüter im freihändigen Verkehr mit dem Grossgrundbesitz nach der Bauernbefreiung von 1816–1859 verloren haben, aber weit weniger als der Gesamtverlust der Bauern in den alten Provinzen Preussens im Laufe des 19. Jahrhunderts, namentlich durch die Bauernbefreiung, der auf 800 000 bis 1 000 000 ha geschätzt wird.

Aber ein sehr grosser Teil auch der unter Vermittlung der Generalkommissionen gebildeten Rentengüter entfällt ebenfalls auf die Ansiedelungsprovinzen Posen und Westpreussen, nämlich 5 543 mit 56 841 ha. Auf diese beiden Provinzen entfallen also von der Gesamtsumme von 32 175 Stellen allein 23 670 mit 322 090 ha, auf den ganzen übrigen Osten dagegen nur 8 505 mit 116 060 ha. Darunter sind nur 6 749 neue Ansiedelungen, davon nur 5 270 mit mehr als 5 ha, während nach der Berufszählung von 1907 dort 10 843 landwirtschaftliche Grossbetriebe (mit mehr als 100 ha) bestehen. Es entfällt also im übrigen Osten, abgesehen von Posen und Westpreussen, auf 2 grosse Güter immer erst 1 neues bäuerliches Rentengut – also wirklich, wie Sering sagt, ein „recht dürftiger Anfang“.

Grösser sind allerdings die Verschiebungen, wenn die Veränderungen durch freihändigen Verkauf dazu genommen werden: es ergibt sich dann von 1895–1907 in den 5 anderen östlichen Provinzen Preussens eine Abnahme der Fläche der Grossbetriebe um 296 000 ha = 7,8% und ihrer Zahl um 342 = 5,1%, in Posen und Westpreussen aber eine Abnahme der Fläche um 321 000 ha = 17,6% und der Zahl um 617 = 12,6%. Nur in Posen und Westpreussen ist also mit Einrechnung der freien Veränderung bis jetzt bereits eine stärkere Einschränkung des Herrschaftsgebietes des Grossgrundbesitzes erfolgt, aber es ist auch hier noch immer sehr bedeutungsvoll. „Jedenfalls ist, wie Sering sagt, das östliche Deutschland noch weit von einer Grundbesitzverteilung entfernt, welche es vor Entvölkerung zu schützen und die deutsche Kultur dauernd zu erhalten vermag.“

Ganz besonders dürftig aber ist bis vor kurzem die Verwendung der inneren Kolonisation zur Lösung der Arbeiterfrage durch Ansässigmachung der Landarbeiter gewesen. Und doch liegt in der Hauptsache in ihr allein die Möglichkeit einer positiven Lösung der ländlichen

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 73. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/89&oldid=- (Version vom 13.11.2021)