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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

Haushaltungsschule des Berliner Lettehauses in Deutschland bekannt gemacht und von da besonders in Baden eingeführt wurde.

Vielleicht noch wichtiger aber als diese verschiedenen Arten der nicht wirtschaftlichen materiellen Fürsorge – und die eigentliche Domäne der ländlichen Wohlfahrtspflege – ist die immaterielle Fürsorge. Denn Mangel an Fürsorge, an Wohlfahrt, auf diesem Gebiete der immateriellen Bedürfnisse ist auch und vielleicht am meisten Ursache der Landflucht. Es gilt dem Land und der ländlichen Bevölkerung zu bringen, was die neue Kulturentwickelung in dieser Beziehung darbietet, und zu erhalten, was von der alten noch Gutes vorhanden ist – damit das Land ihr nicht nur eine Stätte der Arbeit, sondern auch der Bildung und Erholung, der Freude sein kann. Diese Aufgabe besteht nach dem früher Gesagten im allgemeinen ausser bei den Landarbeitern im Nordosten vor allem in den rein bäuerlichen Gebieten, also im Nordwesten und Südosten, weniger in den Freiteilbarkeitsgebieten des Südwestens. Die Mittel, welche hier in Frage kommen sind:

1. die Fortbildungsschule; sie „erstrebt den Ausbau und Abschluss der Volksschulbildung im Rahmen beruflicher Heimatkunde, im Dienste der Wohlfahrtsarbeit“ (Sohnrey). Die Kosten müssen Staat, Kreis und Gemeinde tragen, auch hier liegt also eigentlich nicht Wohlfahrtspflege in unserem engen Sinne vor. Wohl aber ist dies der Fall bei den ländlichen Volkshochschulen. Solche haben wir bis jetzt in Deutschland nur drei in Schleswig-Holstein – eine Nachahmung der ländlichen Volkshochschulen in Dänemark, welche sich hier seit mehr als 60 Jahren ausgezeichnet bewährt und eine grosse Hebung und Entwicklung der Landwirtschaft und der ländlichen Bevölkerung bewirkt haben. Ferner ist von Wichtigkeit und halb ideeller, halb materieller Natur:

2. der Handfertigkeitsunterricht. Er ist besonders für die Erhaltung und Neubelebung der Volkskunst von Bedeutung: es gilt die verlorene Handgeschicklichkeit wieder zu beleben. Er ist mit der Volksschule zu verbinden und schon bei den kleinen Kindern im Kindergarten, bei den Schulpflichtigen besonders im Schulgarten zu betreiben.

3. Auch der Bildung und Belehrung, aber zugleich auch der Erholung und dem Vergnügen dienen die Gemeindeabende – ein Hauptgebiet der reinen eigentlichen Wohlfahrtspflege. Ihre Veranstaltung ist vor allem Aufgabe des Geistlichen unter Mitwirkung der anderen Angehörigen der gebildeten Klassen auf dem Lande und in der Stadt. Sollen die im Gemeindeabend empfangenen Anregungen nachwirken, so sind weiter notwendig:

4. Volks- resp. Dorfbibliothek und Lesezimmer, sowie Gemeindezeitungen. Dazu kommen

5. Dorfmuseen, von besonderer Bedeutung für die Erhaltung der guten alten Sachen, des Hausrats der Väter, am Ort. Ferner Kunstausstellungen, bei denen es sich insbesondere um gute Reproduktionen für einen künstlerischen Wandschmuck handelt. Ebenso dient der Bildung und vor allem der Erheiterung

6. das Dorftheater durch Aufführung alter und neuer guter Volksstücke. Es darf aber unter keinen Umständen eine Schaustellung für Fremde, für die städtische Bevölkerung, insbesondere Sommerfrischler, werden.

7. Ein gleiches gilt von den ländlichen Festen (Erntefesten etc.) mit alten Bräuchen. Insbesondere sind sogenannte „Trachtenfeste“ in der Regel etwas Verkehrtes, nicht nur, wenn sie in der Stadt abgehalten werden, sondern auch auf dem Lande. Die ganze Trachtenbewegung, welche durch „Trachtenvereine“ besonders in Baden und Württemberg, aber auch in Bayern, mit einem gewissen Erfolg aufrecht erhalten wird, ist überhaupt nicht unter einem einheitlichen Gesichtspunkt zu beurteilen, und ihre Erfolge sind auch trotz aller aufgewandten Mühe sehr verschiedenartig.

8. Notwendiger Mittelpunkt für alle diese, teils der Bildung, teils der Erholung und dem Vergnügen dienenden Veranstaltungen ist das Gemeindehaus, das neben alkoholfreiem Versammlungsraum, der zugleich Lesezimmer und Bibliothek sein kann, auch Mittelpunkt der hygienischen und Krankenfürsorge ist, die Kinderkrippe, die Wohnung der Gemeindeschwester und das Dorfbad enthält. Seine Schaffung ist praktisch die Hauptaufgabe der Bewegung und der Vereine für ländliche Wohlfahrtspflege.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 76. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/92&oldid=- (Version vom 13.11.2021)