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Hans Bötticher (Joachim Ringelnatz): Ein jeder lebt’s

Schmütz überrascht stehen blieb. Sie nannten den Namen eines Mannes, den sie genau kannte, da sie zu glücklicheren Zeiten mit ihm in ein und demselben Hause einen ähnlichen Posten wie er bekleidet hatte. Nun las sie erbebend mehrmals hintereinander die Worte Michel Andex.

Der wird mir helfen, jauchzte sie leise, und ihre Augen blitzten.

Aber dann jagte ein häßliches Grinsen über ihr blatternarbiges Runzelgesicht. Nein, er kennt mich nicht; sie sind alle gleich, alle, alle, alle. Ich hatte ihn nie besonders gern, und er haßte mich. Er war ein Laffe, ein eingebildetes Huhn. Aber das Haus ist gut. Die Tür ist fein; das Schild ist polierter Stahl; er wurde reich und er wird Erbarmen haben. Es muß ihn ja ergreifen.

Langsam, geräuschlos stieg sie drei Stufen empor, trat an die Tür, legte die Hand um den Klingelknopf, zog aber nicht, sondern wartete sinnend.

So ihn wiedersehen – es hörte sich an wie Stöhnen – so vor ihn hintreten. Nein!

Sie schlich die drei Stufen wieder hinab und verharrte wieder regungslos.

Aber Not lehrt alles – flüsterte sie – und stieg von neuem die Stufen hoch, zögerte abermals zu läuten. Und läutete nicht.

Scheu, erregt, wund im Herzen kehrte sie um und eilte hinweg. So blieb es ihr verborgen, daß Michel Andex schon längst nicht mehr hinter dem polierten Stahlschild wohnte.


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Hans Bötticher (Joachim Ringelnatz): Ein jeder lebt’s. München: Albert Langen, 1913, Seite 151. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hans_B%C3%B6tticher_Ein_jeder_lebts_158.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)