Seite:Harz-Berg-Kalender 1919 048.png

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läßt sich wohl eine Zeitlang ertragen, aber endlich war die Hinfälligkeit so groß, daß z. B. bei der Grippe die Menschen in erschreckendem Maße dahinstarben. Und der Nahrungsmangel war es nicht allein, der uns bedrängte. Der Wangel an Kleidung und an Heizmaterial gefährdete nicht allein ebenfalls die Gesundheit, sondern beeinträchtigte auch unsere Berufstätigteit und drohte schließlich unser ganzes wirtschaftliches Leben lahmzulegen. Nein, eine lange Fortsetzung des Krieges war unsererseits nicht möglich.

     Und nun die Revolution bei uns! Noch stehen wir mitten darin oder vielmehr, sie hat eben erst begonnen, und niemand weiß, wann und wie sie endet. Wie ist sie ausgebrochen? Von wem ist sie ausgegangen? Jedenfalls hängt sie mit dem unglücklichen Kriegsausgange zusammen. Sie brach da aus, wo man es am wenigsten vermutet hätte, bei unserer Flotte in Kiel. Nichts zeigt deutlicher, das wir am Ende unserer Kraft waren. Es hieß zunächst, die neue Bewegung habe das Ziel, die Kriegsmaschine auf jeden Fall lahmzulegen, um den Frieden unter allen Umständen herbeizuführen. Aber sehr bald trat das eigentliche Ziel der völligen inneren Umwälzung zutage, und damit war ein Problem angeschnitten, dessen Lösung einer etwas weiteren Zukunft vorbehalten zu sein schien. Es ist die soziale Frage, die so plötzlich in den Vordergrund trat, daß die Lösung der Kriegsfrage einfach in den Hintergrund gerückt wurde. Daß einmal die soziale Frage tatkräftig angeschnitten werde, war auch vor dem Kriege schon deutlich zu sehen, denn fast jeder Reichstag war etwas roter oder wenigstens liberaler geworden, die Zahl der Arbeiter und sonstigen Personen, die keinen selbstständigen Beruf hatten, wuchs von Jahr zu Jahr. Aber der lange Krieg ließ die Gegensätze stärker hervortreten und trieb zum Handeln. Es war durch den Krieg jedem Einzelnen soviel an Opfern und Entbehrungen zugemutet, daß das Volk sein Geschick selber in die Hand nehmen will, als sich noch fernerhin von verhältnismäßig wenig Männern leiten zu lassen. Verschärft wurde das Verlangen durch allerlei Mißstände, die während des Krieges mehr hervortraten oder ganz neu erstanden. Die knappen Lebensmittel wurden nicht gleichmäßig an alle herangebracht. Die Maßnahmen der Regierung, so gut sie gemeint waren, versagten teilweise völlig. Nur ein Minimum an Fett z. B. gelangte an jeden, während im Schleichhandel Leute mit viel Geld alles haben konnten. Auch mit dem Fleisch und Obst stand es nicht viel besser. Bei gräßlicher Teuerung, die darbende Leute von der Hand in den Mund kaum leben ließ, sammelte sich bei anderen das Geld in solchen Mengen an, daß es für die Gesamtheit ein großer Schaden wurde. Dazu kam eine sehr weitgehende, früher nicht geahnte Bestechlichkeit bei vielen, die über etwas zu verfügen hatten. Die Moral bei Beamten und Hilfsbeamten sank entsetzlich. Schreiende Ungerechtigteiten geschahen. Eine Vergnügungssucht nahm außerdem in den Städten überhand, die im scharfen Gegensatz stand zu den heißen Kämpfen, die täglich tausend Wunden schlugen. Bei der Unsicherheit der Zeiten feiert der Egoismus Orgien. Wahrlich, die Zeit ist geeignet, scharfe Gegensätze, die schon lange bestanden und während des Krieges zunächst zurücktraten oder künstlich verdeckt wurden, mit elementarer Gewalt hervorbrechen zu lassen.

     Von Kiel aus begann, wie gesagt, die Revolution, und binnen acht Tagen beherrschte sie ganz Deutschland. Der Kaiser verzichtete auf den Thron und alle Bundesfürsten folgten seinem Beispiele oder wurden abgesetzt. Im Nu bildeten sich Überall Soldaten- und Arbeiterräte, die die tatsächliche Gewalt in Händen hatten. Großer Vorbereitungen hatte es nicht bedurft; in Folge des unglücklichen Krieges war der Boden in der Heimat und beim Heer vorbereitet. Die Sozialdemokratie hat beim ersten Ansturm auf der ganzen Linie gesiegt und ist nun drauf und dran, Deutschland nach ihren Plänen einzurichten. Das bedeutet den völligen Bruch mit dem alten System, so radikal; wie ihn sicherlich viele Sozialdemokraten selbst nicht erwartet hatten. Was nun? Wird nun der Zukunftsstaat kommen, wie ihn die Sozialisten vor Jahrzehnten so stürmisch begehrten? Das wird die Zukunft lehren. Manches wird Wirklichkeit werden, weil es den Keim des Guten und Sittlichen in sich trägt. Manches aber auch wird unerfüllt bleiben, weil es eine „Utopie“, d. h. etwas, was wohl ein frommer Wunsch sein mag, aber als unausführbar in der Wirklichkeit keinen Platz findet. Also eine Demokratie wird es geben, die Bestand hat. Die absolute Monarchie und ihr End vor 70 Jahren in den Märztagen von 1948, seitdem gab es eine konstitutionelle Monarchie in Preußen, aber ohne gleiches Wahlrecht. Das von Bismarck in den Kriegsjahren von 1864, 1866 und 1870/71 geschaffene Kaiserreich hatte zwar das gleiche Wahlrecht für den Reichstag, aber der Krone blieben doch starke Befugnisse. Der Reichstag, also die Volksvertretung, konnte zwar bei den Gesetzesvorlagen ein gewichtiges Wort mitsprechen, indessen nicht bei der äußeren Politik entscheiden und verantwortlich mitwirken. Nun ist die alte Regierung einfach nicht mehr da, also ist jetzt die ganze Verantwortung in die Hände des Volkes gelegt. Wird es sich selber leiten können? Die Hoffnung besteht allerdings, denn das Volk das stellenweise erst vor gut 100 Jahren von der Leibeigenschaft befreit ist, das damals auch erst seine Freizügigkeit erhielt, hat sich im letzten Jahrhundert unzweifelhaft gewaltig emporgearbeitet. Dank der Schulbildung und dank seines unaufhaltsamen Strebens in allen Berufszweigen, die doch von gewaltigem Erfolg gekrönt war, sonst hätten wir ja nicht den Neid der Welt erregt, ist das deutsche Volk auch politisch reifer geworden. Daß die Revolution in ihrem Anfange mit der gewaltigen Umwälzung hinsichtlich der obersten Leitung fast ganz unblutig verlaufen ist, darf als glänzender Beweis seiner Selbstzucht angesehen werden. Freilich die schwere Arbeit der völligen Neuordnung hat damit erst begonnen. Die ungleich langwierige Arbeit des neuen Aufbaues wird erst den Beweis bringen müssen, ob an die Stelle des Alten etwas Neues gesetzt wird, was besser ist als jenes. Und dazu bedarf es nicht nur des guten Willens aller Stände und Berufe zur gemeinsamen Arbeit, sondern es ist auch nötig, stets die Einigkeit aller Deutschen als obersten Grundsatz hinzustellen, denn die Uneinigkeit im einzelnen ist nach Beseitigung der Krone eine doppelt schwere Gefahr für unser Volk. Zersplitterung bedeutet in Zukunft einfach Selbstvernichtung. Die Sozialdemokratie darf auf keinen Fall mehr bloß Parteipolitik treiben, nachdem sie die Leitung des ganzen Volkes in die Hand genommen hat, sonst wird sie einen ständigen und immer heftiger werdenden Kampf im Innern führen müssen, der unser aller Zukunft vernichtet. Ein Volk besteht nicht bloß aus Arbeitern. DAs sozialistische Australien kann nicht als Mutter gelten, da es sich an England anstehen muß, am nicht von Japan verschluckt zuwerden. Das bolschewistische Rußland kann noch weniger als Vorbild dienen, denn Rußland zerfleischt sich selber und ist auf dem Wege, alle Kultur, die es übrigens nicht aus sich heraus geschaffen hat, völlig zu Boden zu schlagen. Bei uns waren trotz aller Mißstände und Überlebtheiten hohe Kulturwerte geschaffen, das darf man trotz aller Kritikfreiheit nicht vergessen. Der Kaiser, dem, wie jedem Sterblichen, mancher Fehler nachgerechnet werden kann, faßte das Kaisertum als Diener am Volke auf und hatte wahrhaftig nicht verdient, daß er aus seinem eigenen Volke fließen mußte. Und neben ihm gab es in allen Berufen Tausende von Männern, die in rastloser Arbeit für Deutschlands Volk tätig waren, dahin gehören die Männer der Wissenschaft und Technik, Deren Leistungen die Welt in Staunen setzten und dem