Seite:Harz-Berg-Kalender 1924 035.png

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ich die Geister, die sie heraufbeschwor. Ich glaubte daran, wie ich nachher in der Sexta und Quinta an Jupiter, Athene und Apollo geglaubt habe. Die Götter hatten für mich früher ebensogut gelebt wie später Jesus Christus. Es war eine glückliche Zeit!

     Und doch so ganz glücklich? Meine Eltern waren arm. Beide arbeiteten unablässig. Kam der Vater von der Grube, so stellte er sich an die Drechselbank und brachte manchmal ganz zierliche Sachen, einen Nähtisch und dergleichen, zustande. Die Mutter hatte mit dem Haushlt und mit den Kühen im Stalle genug zu tun. Unser Häuschen war klein; wir wohnten unten, die Großmutter oben, wo in das Dach ein Erker hineingebaut war. Auch unsere Kammern lagen unter dem Dach. Wie oft habe ich da beim Wintersturm mit pochendem Herzen gelegen und zugehört, wie die Biberschwänze (Ziegel) am Giebel klapperten, und wie es immer schien, als ob Schritte auf die Kammertür zukämen und gerade vor der Schwelle wieder umkehrten, ruhe- und rastlos die ganze Nacht, bis ich einschlief!

     An dem Abend, als mir Großmutter die Geschichte vom stillen See erzählt hatte, kam mein Vater traurig nach Hause. Meine Mutter empfing ihn schon an der Schwelle und fragte ängstlich: „Na, wie ist’s!“

     Mein Vater nahm den Schachthut ab, wischte sich den Schweiß von der Stirn und seufzte.

     „So sprich doch?“ sagte die Mutter dringend. „Er will nicht mehr warten?“

     „Nein,“ sagte der Vater. „Er hat die Hypothek gekündigt, und ich weiß keinen, der uns Geld leiht. Um Johanni wird das Haus verkauft und wir liegen auf der Straße.“

     „Geh’ doch zum Geldverleiher!“

     „Zu dem verdammten Halsabschneider! Der dreht uns einen Strick, ehe das Jahr um ist. Es ist ein Jammer, wir hatten alles in Ordnung, Haus, Stall, Garten, aber woher das Geld nehmen?“

     „Der Junge braucht’s nicht zu hören,“ sagte die Mutter. Sie gingen in die andere Stube und sprachen leise weiter, aber beide blieben am Abend und die folgenden Tage gedrückt und still. Es lastete schwer auf mir. Wir sollten aus unserem Hause, fort und all den Stätten, die ich mit einer Welt von Wesen mir bevölkert hatte? Den Eltern und mir mußte geholfen werden, und ich wollte und konnte helfen.

     Die Walpurgisnacht kam heran. Großmutter erzählte mir, wie es da auf dem Brocken herginge. Der Brocken lag uns mit seiner breiten, runden Kuppe gerade gegenüber; wir brauchten nur ostwärts aus dem Fenster zu schauen. Des Abends, wenn die Sonne unterging, glühten oft die Fenster des Wirtshauses da droben, als ob es über und über in Flammen stände.

     Während Großmutter eben erzählte, hörte ich wie meine Mutter laut aufschrie. Türen wurden geschlagen, und dann knarrte der Torweg. Ich lief die Treppe hinunter, Großmutter humpelte ans Fenster. Es hielt ein Pferd mit einer Schleife auf der Straße, und auf der Schleife lag die beste von unseren beiden Kühen. Meine Mutter rang die Hände, wie wenn eines von uns gestorben wäre; der Vater sah so finster und kummervoll aus, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Die Kuh war gestürzt, und um das Fleisch wenigstens zu retten, hatte der Hirte sie im Walde abgeschlachtet. Das Unglück saß auf unserer Schwelle. Konnte es noch schlimmer werden?

     In dieser Nacht noch mußte ich handeln.

     Den Tag über gab es viel wegen der Kuh zu tun. Als um 9 Uhr abends die Mutter, nachdem sie ihre eine Kuh besorgt hatte, aus dem Stalle kam, brach sie fast vor Schmerz und Müdigkeit zusammen. Ich schlief in einer Art Verschlag unter dem Schindeldach, die Eltern in einer Kammer daneben. Als ich in meinem Bette lag, kam die Mutter noch einmal, um mich zuzudecken und einen Kuchendeckel vorzustecken, damit ich nicht herausfiele. Die Tränen liefen ihr über die bleichen Wangen; ich küßte sie und flüsterte ihr ins Ohr es würde alles wieder gut werden und bald. Sie schluchzte nur stärker und drückte mich so, daß ich kaum Atem hatte, dann ging sie in ihre Kammer, und nach einer halben Stunde leisen Jammerns war alles still.

     Aufrecht saß ich in meinem Bettchen und horchte. Jetzt schliefen die Eltern; denn der Vater schnarchte, und die Mutter blies den Atem stoßweise durch den gespitzten Mund.

     Leise zog ich Höschen und Jacke an; die Schuhe nahm ich in die Hand; eine Mütze trug ich nur im Winter. Wenn eine Diele knarrte, blieb ich stehen, um zu hören, ob auch niemand aufgewacht sei. An der Treppe legte ich mich aufs Geländer und fuhr blitzschnell hinunter; die alten Stufen hätten mich gewiß verraten. Über die Steine der Diele glitt ich geräuschlos bis an die Hoftür, die nur verriegelt war. Ich schob den Riegel zurück und betete, daß doch kein Dieb sich einschleichen möchte, wenn ich fort wäre.

     Nun ging’s den Tritt hinunter über den Hof zwischen Stall und Holzhaufen durch in den Garten hinein. Die Gartentür war verschlossen; deshalb kletterte ich über den Zaun und sprang auf die Wiese. Da der Zaun für mich kleinen Kerl zu hoch war, plumpste ich die Länge lang hin, ohne mir aber Schaden zu tun.


Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Allgemeiner Harz-Berg-Kalender für das Schaltjahr 1924. Piepersche Buchdruckerei, Clausthal 1923, Seite 34. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Harz-Berg-Kalender_1924_035.png&oldid=- (Version vom 22.9.2018)