Seite:Harz-Berg-Kalender 1924 036.png

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     Zuerst lief ich, ohne mich umzusehen, bis ich an den Pferdeteich kam. Da ging ich langsamer und sah auf unsere Straße und auf die im Schlummer liegende Stadt zurück. Es war eine sternenhelle Nacht. Hie und da brannte noch ein Lichtchen. Im Westen zog sich, wie auch nur in ganz undeutlichen Formen, der Hüttenrauch hin. Ich mußte an die Hexen denken, die jetzt nach dem Brocken ritten.

     Als ich an dem Steinbruch vorbei war, verlor ich die Stadt aus dem Auge. Nur Wiese und dahinter Wald. In der Ferne erklang das eintönige Anschlagen einer Geipelglocke. Meine Schritte hörte ich nicht auf dem weichen Wiesenwege. Es war sehr still, aber ich konnte noch sehen, und ich fing an überall etwas zu sehen. Da kam ein Ungeheuer her. Ich lief und duckte mich hinter einem kleinen Hügel. Als das Ding aber nicht weiterging, umkreiste ich es und fand zuletzt, daß es mitten auf der Wiese ein Gesträuch war, das im Wind hin und her wogte.

     Das Weinen stand mir nahe. Ich fürchtete mich beinahe mehr als vorher; doch vorwärts mußte ich.

     Da kam der Wald, erst niedere Fichten, zwischen denen der enge Wald, erst niedere Fichten, zwischen denen der enge Pfad hindurchführte. Ich konnte nur gerade vor und hinter mich sehen. Da stieg auf einmal der Gedanke in mir auf, wenn jetzt ein Arm sich hervorstreckte und dich faßte. Jeden Augenblick erwartete ich ein solches Hindernis, und siehe da, am Ende des Unterholzes, wo der Hochwald begann, stand diesmal leibhaftig eine mächtige Gestalt mit glühendem Gesicht und weit ausgebreiteten Armen. Zu gleicher Zeit stieß ein Käuzchen seinen Schrei aus. Mir wars als käme der Ton von dem leuchtenden Gesicht. Mein Mut war dahin, meine Beine zitterten, und ich dachte daran, wie sicher und gemütlich es doch in meinem Bette in dem Verschlage unter dem Dache wäre. Das Käuzchen schrie, und die Gestalt hielt die Arme ausgestreckt. Ich mußte daran vorbei; Das Gebüsch war rechts und links undurchdringlich. Da betete ich, was mir einfiel: „Der Tag ist wieder hin“ und „Ich bin klein“ und „Komm, Herr Jesus, sei unser Gast“, und damit schritt ich, wenn auch bebend, immer vorwärts auf das Ungeheuer los. Zurück wollte ich nicht. Heute mußte es sein, oder meine Eltern waren unglücklich auf immer.

     Als ich mich drei Schritte von der Erscheinung befand, sah ich, daß es ein Wegpfahl war in Gestalt eines Kreuzes, dessen oberer Teil faul und vermorscht war und deshalb leuchtete.

     Daß auch dieses zweite Abenteuer so gut abgelaufen war, erhöhte meinen Mut, und ich trat, wenn auch immer noch zitternd und bebend in den dunklen Hochwald ein. Da war es aber auch mit dem Sehen zu Ende. Nur wenn ich in die Höhe blickte, bemerkte ich wohl ein Sternchen. Ich durfte den harten Weg nicht verlieren; es war derselbe, den der Bergmann gegangen war. Zuweilen stieß ich gegen einen Baumstamm, zuweilen rollte ich einen kleinen Abhang hinab, aber vorwärts! Die eine Hand hielt ich nach vorn gestreckt, den linken Arm gebogen vors Gesicht, damit mich kein Zweig in die Augen träfe. Ich hörte Wasser gurgeln und schluchzen. Zuerst erschrak ich, weil es so menschlich klang, dann aber erfreute es mich; denn ich mußte, daß dieser Quell zum stillen See floß.

     Es ging so steil den Berg hinunter, daß ich mich in acht nehmen mußte, um nicht ins Laufen zu geraten. Steine lösten sich unter meinen Schritten und hüpften und sprangen und schlugen zuletzt plätschernd ins Wasser. Das war der See. Er mußte ganz nahe sein.

     Das Herz schlug mir vor Aufregung bis in die Kehle. Jetzt mußte das weiße Reh kommen. Ich riß die Augen weit auf, um die Dunkelheit, die mich überall anstarrte, zu durchdringen, aber ich sah nichts, nur die Stimmen des Waldes, das Rauschen der Wipfel, das Knarren eines abgebrochenen Astes, das träumerische Piepsen eines Vogels, das Murmeln des Quells, das Rollen eines Steines, sprachen zu meinem bangen Kinderherzen.

     Ich trat auf den Rasendamm, der den stillen See auf der einen Seite einschloß; sonst umringten ihn hochragende Tannen, deren Wipfel sich vom Nachthimmel abhoben und beim Sternenlicht in das tiefe, dunkle Wasser tauchten, so daß sie unendlich groß und doppelt bestanden.

     Da ich sehr müde war, setzte ich mich ins Gras und sah nach der Mitte des Sees; eine Viertelstunde verging und noch eine. In Bergheim hörte ich einhalb und dreiviertel zwölf schlagen. In einer Viertelstunde mußte das Wunder geschehen, aber was ich auch kämpfte, meine Augen fielen zu, und ich schlief so fest, daß ich wohl einmal fühlte, wie man mich rüttelte, daß man mich aufhob, daß ich aber erst aufwachte, als heller Lichterschein mich blendete, als das Dröhnen einer Orgel an mein Ohr drang, als ein weißes Reh mich mit seinem schönen braunen Augen freundlich ansah und mir voranging in einen weiten Raum, der von einem goldenen Kronleuchter erhellt und mit herrlichen Bildern geschmückt und mit Leuten in seinem Sonntagszeug angefüllt war. Ein Geistlicher stand in der Nähe eines kleinen Altars, kurz, es war alles, wie es mir die Großmutter beschrieben hatte. Ich rieb mir die Augen und, noch halb im Schlafe, fing ich an zu sprechen, um das richtige Wort zu sagen. Ich erzählte meiner


Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Allgemeiner Harz-Berg-Kalender für das Schaltjahr 1924. Piepersche Buchdruckerei, Clausthal 1923, Seite 35. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Harz-Berg-Kalender_1924_036.png&oldid=- (Version vom 11.4.2019)