Seite:Harz-Berg-Kalender 1928 075.png

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     Ines hatte seine Worte kaum gehört; ihre Gedanken verfolgten nur den einen Punkt. „Wenn du sagen kannst: Sie ist ja nicht dein Kind, warum sagst du denn nicht auch: Du bist ja nicht mein Weib!“

     Und dabei blieb es. Was gingen sie seine Gründe an!

     Er zog sie an sich; er suchte sie zu beruhigen; sie füßte ihn und sah ihn durch Tränen lächelnd an; aber geholfen war ihr damit nicht.

*

     Als Rudolf sie verlassen hatte, ging sie hinaus in den großen Garten. Bei ihrem Eintritt sah sie Neli mit einem Schulbuche in der Hand um den breiten Rasen wandern, aber sie wich ihr aus und schlug einen Seitenweg ein, der zwischen Gebüsch an der Gartenmauer entlang führte.

     Dem Kind war beim flüchtigen Aufblick der Ausdruck von Trauer in den schönen Augen der Stiefmutter nicht entgangen, und wie magnetisch nachgezogen, immer lernend und ihre Lektion vor sich hermurmelnd, war auch sie allmählich in jenen Steig geraden.

     Ines stand eben vor einer in der hohen Mauer befindlichen Pforte, die von einem Schlinggewächs mit lila Blüten fast verhangen war. Mit abwesenden Blicken ruhten ihre Augen darauf, und sie wollte schon ihre stille Wanderung wieder beginnen, als sie das Kind sich entgegenkommen sah.

     Nun blieb sie stehen und fragte: „Was ist das für eine Pforte, Nesi?“

     „Zu Großmutters Garten!“

     „Zu Großmutters Garten? – Deine Großeltern sind doch schon lange tot!“

     „Ja, schon lange, lange.“

     „Und wem gehört denn jetzt der Garten?“

     „Uns!“ sagte das Kind, als verstehe sich das von selbst.

     Ines bog ihren schönen Kopf unter das Gesträuch und begann an der eisernen Klinke der Tür zu rütteln; Nesi stand schweigend dabei, als wolle sie den Erfolg dieser Bemühungen abwarten.

     „Aber er ist ja verschlossen!“ rief die junge Frau, indem sie abließ und mit dem Schnupftuch den Rost von ihren Fingern wischte. „Ist es der wüste Garten, der man aus des Vaters Stubenfenster sieht?“

     Das Kind nickte.

     „Horch nur, wie drüben die Vögel singen!“

     Inzwischen war die alte Dienerin in den Garten getreten. Als sie die Stimmen der beiden von der Mauer her vernahm, beeilte sie sich, in ihre Nähe zu kommen. „Es ist Besuch drinnen,“ meldete sie.

     Ines legte freundlich ihre Hand an Nesis Wange. „Vater ist ein schlechter Gärtner,“ sagte sie im Fortgehen, da müssen wir beide noch hinein und Ordnung schaffen.“

     Im Hause kam Rudolf ihr entgegen.

     „Du weißt, das Müllersche Quartett spielt heute abend,“ sagte er; „die Doktorsleute sind da und wollen uns vor Unterlassungssünder warnen.“

     Als sie zu den Gästen in die Stube eingetretan waren, entspann sich ein langes, lebhaftes Gespräch über Musik; dann kamen häusliche Geschäfte,