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hatte. Neugierig spähte sie in alle Winkel.

     „Was gehst du herum wie ein Kontrolleur?“ sagte die Alte.

     „Ja, Anne, wo ist aber meine Wiege geblieben?“

     Die Alte blickte sie mit schlauem Lächeln an. „Was meinst’,“ sagte sie, „wenn dir der Storch noch so ein Brüderchen brächte?“

     Nesi sah betroffen auf; aber sie fühlte sich durch diese Anrede in ihrer elfjährigen Würde gekränkt. „Der Storch?“ sagte sie verächtlich.

     „Nun freilich, Nesi.“

     „Du mußt nicht so was zu mir sprechen, Anne. Das glauben die kleinen Kinder; aber ich weiß wohl, daß es dummes Zeug ist.“

     „So? – Wenn du es besser weißt, Mamsell Naseweis, woher kommen denn die Kinderchen, wenn nicht der Storch sie bringt, der es doch schon die Tausende von Jahren her besorgt hat?“

     „Sie kommen vom lieben Gott,“ sagte Nesi pathetisch. „Sie sind auf einmal da.“

     „Bewahr’ uns in Gnaden!“ rief die Alte. „Was doch die Guckindiewelte heutzutage klug sind! Aber du hast recht, Nesi; wenn du’s gewiß weißt, daß der liebe Gott den Storch vom Amte gesetzt hat, – ich glaub’s selber, er wird’s schon allein besorgen können. – Nun aber – wenn’s denn so auf einmal da wär’, das Brüderchen – oder wolltest du lieber ein Schwesterlein? – würd’s dich freuen, Neschen?“

     Nesi stand vor der Alten, die sich auf einen Reisekoffer niedergelassen hatte; ein Lächeln verklärte ihr ernstes Gesichtchen, dann aber schien sie nachzusinnen.

     „Nun, Neschen,“ forschte wieder die Alte. „Würd’s dich freuen, Neschen?“

     „Ja, Anne,“ sagte sie endlich, „ich möchte wohl eine kleine Schwester haben, und Vater würde sich gewiß auch freuen; aber – –

     „Nun, Neschen! Was hast du noch zu abern?“

     „Aber,“ wiederholte Nesi und hielt dann wieder einen Augenblick wie grübelnd inne; - „das Kind würde ja dann doch keine Mutter haben!“

     „Was?“ rief die Alte ganz erschrocken, und strebte mühsam von ihrem Koffer auf; „das Kind keine Mutter? Du bist mir zu gelehrt, Nesi; komm, laß uns hinuntergehen! – Hörst du? Da schlägt’s zwei! Nun mach, daß du in die Schule kommst!“

*

     Schon brausten die ersten Frühlingsstürme um das Haus; die Stunde nahte.

     „Wenn ich’s nicht überlebe,“ dachte Ines, „ob er auch meiner dann gedenken würde?“

     Mit scheuen Augen ging sie an der Tür des Zimmers vorüber, welches schweigend sie und ihr künftiges Geschick erwartete; leise trat sie auf, als sei drinnen etwas, das sie zu wecken fürchte.

     Und endlich war dem Hause ein Kind geboren, ein zweites Töchterchen. Von außen pochten die lichtgrünen Zweige ans Fenster; aber drinnen in dem Zimmer lag die junge Mutter, bleich und entstellt; das warme Sonnenbraun der Wangen war verschwunden, aber in ihren Augen brannte ein Feuer, das den Leib verzehrte. Rudolf saß an dem Bette und hielt ihre schmale Hand in der seinen.

     Jetzt wandte sie mühsam den Kopf nach der Wiege, die unter der Hut der alten Anne an der anderen Seite des Zimmers stand. „Rudolf,“ sagte sie matt, „ich habe noch eine Bitte!“

     „Noch eine, Ines? Ich werde noch viel von dir zu bitten haben.“

     Sie sah ihn traurig an; nur eine Sekunde lang; dann flog ihr Auge wieder nach der Wiege. „Du weißt,“ sagte sie, immer schwerer atmend, „es gibt kein Bild von mir! Du wolltest immer, es solle nur von einem guten Meister gemalt werden – wir können nicht mehr warten auf die Meisterhand. – Du könntest einen Photographen kommen lassen, Rudolf; es ist ein wenig umständlich; aber – mein Kind, es wird mich nicht mehr kennen lernen; es muß doch wissen, wie die Mutter ausgesehen.“

     „Warte noch ein wenig!“ sagte er und suchte einen mutigen Ton in seine Stimme zu legen. „Es würde dich jetzt zu sehr erregen; warte, bis deine Wangen wieder voller werden!“

     Sie strich mit beiden Händen über ihr schwarzes Haar, das lang und glänzend auf dem Deckbette lag, indem sie einen fast wilden Blick im Zimmer umherwarf.

     „Einen Spiegel!“ sagte sie, indem sie sich völlig in den Kissen aufrichtete. „Bringt mir einen Spiegel!“

     Er wollte wehren, aber schon hatte die Alte einen Handspiegel herbeigeholt und auf das Bett gelegt. Die Kranke ergriff ihn hastig; aber als sie hineinblickte, malte sich ein heftiges Erschrecken in ihren Zügen; sie nahm ein Tuch und wischte an dem Glase, doch es wurde nicht anders; nur immer fremder starrte das kranke Leidensantlitz ihr entgegen.

     „Wer ist das?“ schrie sie plötzlich. „Das bin nicht ich! – O, mein Gott! Kein Bild, kein Schatten für mein Kind!“

     Sie ließ den Spiegel fallen und schlug die mageren Hände vors Gesicht.