Seite:Harz-Berg-Kalender 1932.pdf/33

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Diese Seite wurde noch nicht korrekturgelesen. Allgemeine Hinweise dazu findest du auf dieser Seite.

der Bergstadtleute kein Faden so fein gesponnen sein können, den sie nicht mit spitzen Fingern herauszuknoten verstand, an richtiger Stelle anknüpfte, durch krauses Gewirr hindurchhaspelte und mit der Zuverlässigkeit des Standesamtsregisters dort festhäkelte, wohin ihn Schicksal oder Liebe bestimmten.

     Die Lisetante wußte noch auf Tag und Stunde genau, wann der Rosenhöfer Schacht einstürzte, wann der Biewends-Ludel beim Baumfällen erschlagen wurde und wann sich der Kuhhirte Meinhardt die Schlagader durchschnitt, als er Pflöcke für die Glockenbügel schnitzte. Sie wußte noch, wann das Krauskopfs-Haus abbrannte, wann der fahrende Kaninchenfresser die Bergstadtleute nasführte und welchen Spruch der Dachdecker hergesagt hatte, als der neue Messingknopf auf den Kirchturm gesetzt wurde. Sie wußte, warum sich der Müller Bornemann aufgehängt hatte und weshalb der Bergmann Mathias nach Amerika auswanderte. Ein Brudersohn von dem Ausgewanderten hatte zuerst das Treckermädel vom Brink heiraten wollen. Er freite aber schließlich doch dem Hüttenmann Mengler – dem Mengler-Schorsche unten im Loch! – seine Tochter. Der ihre Mutter war eine geborene Hirschhausen. Dem alten Hirschhausen sein Großvater hat bei den Cambridge-Dragonern gedient und soll bei Waterloo . . . .

     Solche Auskünfte also, die immer mehr wußten als man wissen wollte und die sich ins Endlose verästelten wie eine Korallenkrone, hätte sich einer von der Lisetante holen können.

     Aber das glückliche Gedächtnis war nicht ihre einzige Gabe. Wer sich ein wenig auf Ausdruckskunde verstand, der hätte im Gesicht der Lisetante mancherlei Glücksgüter entdeckt, die ihr das Schicksal in die Wiege legte als goldenen Ausgleich für ein armes Leben, das aus Zuppelsrock und Beiderwandschürze nicht herauswachsen sollte.

     Wenn sie ihren Kopf zurückbog, bohrten sich ihre Pupillen wie mit einem Sattlerort gestochen durch die Augengläser. Dann sagte jeder Blick: Lieber Freund, du machst mir keine Wippchen vor! Wenn sie aber den Kopf nach vorn neigte, hupfte aus wasserklarem Blau ein Schelm über die stählernen Brillenbogen. Die schmalen Lippen und die gerade Linie des Mundes sprachen von Gleichmut und einem auskömmlichen Pfündlein Seelenruhe. Die feinen Fältchen jedoch, die sich um die Mundwinkel schwangen, waren körperlich festgehaltener Ausdruck von Humor und Spott und lachender Lebensverachtung, die zuweilen ein wenig mit Vitriol gäätzt und zu beißendem Sarkasmus werden konnte.

     Indessen hätte solche Ausdrucksstudien, die am Aeußeren haften bleiben, das Bild der Lisetante lückenhaft gelassen. Es mußte einer schon zu ihr in die Flickstube gehen, wenn er das unterhaltsame Buch ausstudieren wollte, das da hieß: Elisabeth Frohgemut, Hüttenmannswittfrau und Flickerin zu Grünewies im Oberharz.

     Es gab in den Häusern hin und her mancherlei Handschläge zu tun an zerrissenen Hosenböden, Hemden, Unterröcken und Schürzen. Für alle großen und kleinen Kleidernöte war die Lisetante Helferin in der Not. Und Strümpfestopfen erst! Du lieber Gott, wieviel Berge von Strümpfen warteten auf sie. Schtrimpe schtoppen, wos wollter? Dos häßt mer echt Lochschtickerei!

     Wenn die Lisetante zum Flicken bestellt war, knickerte ihr eine fröhliche Erwartung voraus. Man wußte, daß es lustig werden würde. Denn die Flickfrau Frohgemut pflegte in ihrem Nähbeutel nicht nur das nüchterne Handwerkszeug mitzubringen. Neben Schere, Fingerhut und Nadelkissen staken viele schöne Dinge in ihm. Zunächst waren, säuberlich aufgerollt wie das Bandmaß, alle Neuigkeiten des Tages hineingepackt? Hahn Se❜s denn all gehärt, Frau Nappern? ❜s Miller-Mining hot heite Morring wos klänes gekrehng. ❜n Mädel. – Daneben aber barg er für die Großen einen unerschöpflichen Schatzkasten Frohsinn, aus dem die Lisetante mit vollen Händen Schnurren und Schnickschnack hervorholte und darin zu unterst auch die lästerliche Buttermilchpredigt eingewickelt lag. Für die Kleinen hingegen hielt sie eine goldene Zaubertruhe von Märchen, Reimen und Liedern bereit.

     Der Liederkranz der Lisetante war von unbekümmerter Buntfarbigkeit. Es hätte keiner sagen können, daß es aus lauter Rosen gewunden gewesen wäre. Bergblumen staken dazwischen, aus denen der herbe Ruch von Arnika und Thymian herwehte. Neben Immortellen prunkten Papierblumen, die ohne Schaden hätten fortbleiben können. Aber dieses farbige Gemisch von Feinduft, Herzhaftigkeit und Gassenluft, darin zuweilen ein Lüftlein Anrüchigkeit zu wittern war, war Eigenatmosphäre der Lisetante und spiegelte das Bild einer vielseitigen Seele wieder, die mit gleicher Andacht auf Wolkensäumen wie in dem Irrgarten der Allzumenschlichkeit zu luftwandeln liebte.

     So sah das Gesangbuch der Lisetante aus wie die seltsame Generalpartitur eines setsam zusammengesetzten Orchesters. Je nach Stunde und Stimmung konnte es wie Orgelklang und Glockenläuten darin tönen. Oder die Harzzither konnteeine feine Begleitung schlagen, wenn das Heimwehlied vom Vaterhaus im schönsten Wiesengrunde erklang. Oder Hirtenflöten düdelten:

Schöner Mai, holder Mai,
Winters Herrschaft ist vorbei.

Die Altstimme der Lisetante floß wie Cellostrich in die Melodie und verband die Pausen mit weichem Mezzopiano:

Schöner – schöner Mai,
Holder – holder Mai . . .

Wie Schmalz und Butter war das, und schöner hätte es in keinem Liederbuch stehen können!

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Allgemeiner Harz-Berg-Kalender für das Schaltjahr 1932. Piepersche Buchdruckerei, Clausthal 1932, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Harz-Berg-Kalender_1932.pdf/33&oldid=- (Version vom 17.12.2018)