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     Im Orchester der Lisetante durfte die Ziehharmonika nicht fehlen. Der „Blasebalg“ jürkelte zum Wilddiebslied, zum Lied vom Bergmann, der das Leder vorm Ichdarfsjanichtsagen trägt und nörgelte sein herrlichstes Solo, wenn das Fuhrmannslied an die Reihe kam. Der Rhythmus dieses Liedes holperte wie ein Bollerwagen auf der Bergstraße. Doch wenn der Kehrreim klang:

Schwingt er seine Peitsche so,
Klitschi – klatschi – hihaho,
Klitschi – klatschi – hier,
Klitschi – klatschi – her, –

fühlte jeder Junge den Schwippenstiefel in der Hand und hörte Peitschenknallen und Fuhrmannsjuchzer im Wald.

Dann wieder fing irgendwann ein dürrstimmiger Leierkasten zu nudeln an von Malchens Liebesleid:

Ich kann nicht mehr tanzen,
Nich fröhlich mehr sein . . .

Oder er gassenhaerte die grausliche Moritat von Julchen, der der Tod ihres Mannes den Maskenball verdirbt:

Zum Ball will Julchen gehn,
Gebrannt sind schon die Locken . . .

Trompeten räterten dazwischen. Und schließlich setzten die Geigen ein zum lustigen „Hackenschpitzer“;

Hiehfte wull, do kimmtr,
Gruße Schritte nimmtr . . .

Oder begannen ein verwegenes Hochzeitsständchen aufzuspielen, zu dem die Kontrabässe die düstere Entgegnung brummten:

Hunger und Kummer wärd ahch noch kumme.
Wärscht dann Jammer noch kriehng . . .

Es ging bund und lustig her in dem Liederbuch der Lisetante. Die Kinder taten die Mäuler auf vor Bewunderung. Vergötterung aber wuchs das Staunen, wenn die Sängerin ihr berühmtes russisches Lied anstimmte.

Zischik – zischik –jettepo,
Oker – Radau – Wortkrawall,
Wieberg – krimker – wieberg wach,
Raschau – minau – chalawa.

Wie prachtvoll seltsam dieses „chalawa“ aus dem Grunde des Kehlkopfes hervorquoll, – nein, nein, was die Liesetante alles konnte! –

     Liesetante, nu verzähl uns was!

     Die Kindermünder bettelten. Doppelt so viele Kinderaugen bettelten mit, und gebeselig ließ die Lisetante einen Wunderbaum aufwachsen, der zwischen Nadelgeflister und Nähmaschinenrasseln goldene Blüten trieb im Märchenland Flickstube. Hänsel und Gretel traten herein. Auf dem Thron der Fußbank schlief Dornröschen hundert Jahr. Rotkäppchen und Schneewittchen guckten durchs Fenster. Ganz grausig schnarchte der Wolf, der Großmutter und sieben Geißlein gefressen hatte. Im Fingerhut wisperte der Däumling. Däumelinchen turnte durch die Nadelöhre. Auf dem Holzkastenrand saß das arme Aschenputtel und weinte sich die Augen rot. In der Schrankhöhle schluchzte Genoveva, und der Hahn draußen auf dem Holzbanke krähte ganz wahrhaftik: Kikeriki, unsere Goldmarie ist wieder hie.

     Hei, und wie lustig wurde es in der Flickstube, wenn erst die Lisetante ihr eigenes Märchenbuch aufschlug, daraus es wie Harzluft und Fichtennadeln duftete. Vom Brocken polterten Berggeister her. Der wilde Jäger brauste über den Bruchberg. Auf Besenstiefeln und Heuforken ritten Moorhexen herein. Verwunschne Harzgrafenkinder nahmen würdevoll Platz. Auf dem Tritt der Nähmaschine schaukelten sich Alraunenmännlein, und Waldgeister trieben zwischen Hosenflicken, Stoffgarn und Zwirnsrollen heimlichen Spuk. Hu und dann die bösen Räuber! Kennt ihr den Riesewampel, der auf dem Dachboden sitzt und Hede zupft? – Er hat Augen wie ein paar Taubennester . . . Und eine Nase wie ein Wasserstunzen. Und sein Mund ist so groß wie ein Schweinetrog.

     Die Kinderaugen wurden weit und blank, wenn der Märchenbrunnen sprudelte. Wie aus einem Bergquell kam das alles, den Fichten überschatten und an dessen Säumen Moospolster grünen. Ungezählte Kinderherzen haben Freude aus diesem Born getrunken, der sein Kristall spendete ungebeten, ungedankt, unermüdlich, unerschöpflich.

     Als der dennoch zu versiegen begann, ahnte jeder, daß in den Tiefen, daraus er hervorquoll, ein Stollen zu Bruch gegangen sein mußte.

     Der Krieg mit seinen Nöten hatte auch die Lisetante weiß und stumpf gemacht.

     Wißt ihr, was hölternes Schmalz ist?

     Kein anderer als die Lisetante hätte die trockene Kriegsmarmelade so bildhaft umtaufen können. Das hölterne Schmalz taugte nicht dazu, verfallene Kräfte aufzuhalten. Der Lisetante wurden die Röcke zu weit. Mit dem goldenen Gleichmut, mit dem sie im Leben Nadel und Schere, Holzart und Säge und die Deichsel ihres Holzwägelchens zu führen verstand, wartete sie auf den Tod. Still und klagelos ging sie hinüber. Auf ihren Lippen wurde ein Wort spottender Todesverachtung starr. Es wäre wert, ob seiner derben Absonderlichkeit, überliefert zu werden. Aber die Lisetante würde über den Brillenrand hergucken und mit dem Finger drohen: Pfu, schamt eich wos! Sune Wärter namm ich net in dr Mund . .

     Und das wäre wieder ganz Lisetante gewesen.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Allgemeiner Harz-Berg-Kalender für das Schaltjahr 1932. Piepersche Buchdruckerei, Clausthal 1932, Seite 32. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Harz-Berg-Kalender_1932.pdf/34&oldid=- (Version vom 17.12.2018)