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Die silberne Glocke
Von Karl Reinecke-Altenau


     Jede Bergbachquelle hat ihr eigenes Gesicht und ihre eigene Musik, und jede trägt das Herz der Mutter in sich, deren Schoß sie gebar.

     Die einen quillen hervor wie stille Freude und fangen daseinsfroh alle Himmelsbläue über sich in ihre Klarheit hinein, Gotteswunder zu Gotteswunder fügend. Oder sie liegen wie moosumkränzte Träume in Fichtendämmerung verkuschelt. Andere sind drängendes Gebrodel, das nicht viel Zeit zum Besinnen läßt und keine Muße findet zum beseligten Auskosten der Stunde des Zur-Welt-Gekommense. Die dritten dann sind voll stürmender, ungebärdiger Wildheit. Sie kennen kein Verweilen und kollern davon, als sei alle Sonne nachzuholen, die sie versäumten, da sie noch Rinnsal waren unter Fels und Erde. Manche sind schon große Kinder, wenn sie ans Licht treten und zum ersten Male die Sonne grüßen. Sie sind mündig und wissen, was sie wollen. Andere wiederum tappen wie zage Wegsucher in die Welt. Sie machen Fragende Augen und müssen sich vom Schicksal an die Hand nehmen lassen. In ihrer Stimme ist noch Kindheit. Sie üben noch an den Liedern, die sie unten im Tal singen wollen und fangen mit der Tonleiter an: tink, tunk, tink, tonk. – Von diesen ganz Kleinen weiß ich einen, der ist wie eine silberne Glocke in die Stille eines Bergwaldes gehängt.

     Durch den Urberg wächst eine Bruchbarre. Nach dem Stamm zu wird sie zu brauner Öde. An den Hängen aber leckt sie mit breiten Zungen in eine Waldwildnis hinab, in der zwischen zerrauften Wetterkämpen Tod und Leben durcheinanderpoltern. Das Bruch schluckt Wolken voll Regen und Nebel in sich hinein. Torfmoos und Seggen verfilzen sich über ihm und halten den nassen Segen fest, daß nicht mehr von ihm verdampfe, als weise Haushälterischkeit für gut befindet zu Nutz von Wald und Wild und Menschen. Die Bruchbarre hat einen Schaß zu hüten, dessen Wert manchem Ödlandkulturpropheten noch nicht aufging. Das Bruch geizt nicht mit seinem Schatz. Doch nicht alle Tage teilt es mit vollen Schalen aus. Was es spendet, ist nach dem Vorrat bemessen, den ein ungemalter Pegelstrich anzeigt. Zu Zeiten schickt es kullernde Rinnsale ins Tal, daß der ganze Hang ein schwatzendes Plörren und Plurren ist. Manchmal platschen Gießbäche daraus hervor, die den Wald mit Brausen füllen. Wenn aber Sommersonne über den oberharzischen Wald brennt, ist nur sparsames Geben Tropfen um Tropfen. Unter Torfmoder und Wurzeln geht ein stilles Wandern an. Porenfeine Äderchen sind die Wanderstraßen, darauf unter Tage das Tropfenvolk seine Sickerfahrt tut. Keins hat sondere Eile. Keins weiß, wohin die Reise geht. Zu einem Bachbett vielleicht. Vielleicht in ein schwarzes Sumpfloch, in dem nachts das Rotwild suhlt.


Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Allgemeiner Harz-Berg-Kalender für das Jahr 1950. Piepersche Druckerei, Clausthal 1949, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Harz-Berg-Kalender_1950_045.png&oldid=- (Version vom 9.4.2019)