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Richtung hatten dahin geführt, daß man die Leiber als nebensächlich, den Ausdruck der Gedanken als das Wesentliche der Kunst betrachtet hatte. Wie die Dichtung sich in übersinnlichen Verfeinerungen, in der spielenden Uebertreibung zugespitzter Gefühle bewegte, so hatte auch die Plastik den Boden der Wirklichkeit verloren, die Formen gestreckt, gebogen und gewunden, ihnen jenes himmelnde Lächeln, jene Gliederverrenkungen, jene Körperlosigkeit gegeben, welche eine höhere Art von Frömmigkeit darstellen sollten, aber nichts besseres waren als die verwandte Kunst des 17. und 18. Jahrhunderts, eine Manier, eine lahme Stilisirung, der der eigentliche Ernst der Künstlerschaft, die gewissenhafte Wahrheitsliebe, die Ursprünglichkeit der Anschauung fehlte.“ Also die Straßburger Figuren kennt Gurlitt nicht, die mit den herrlichen Gestalten der Kirche, der Synagoge, der beiden Frauen des salomonischen Urtheils am Kreuzflügel gegen 1230 beginnen und mit den großartigen Gestalten der drei Hauptportale gegen 1300 schließen. Er hat nicht die Leiber in stolzer Schöne durch den herrlichen Faltenwurf der Gewänder nur noch deutlicher hervorgehoben gesehen. Auch Magdeburg, Bamberg, Naumburg, Trier, Worms usw., alles ist Gurlitt unbekannt. Man muß sie aus eigener Anschauung oder aus guten Photographieen kennen, denn die wenigen, welche in den Kunstbüchern als Holzschnitte abgebildet sind, haben die Zeichner gründlich mißhandelt. Daher kennen sie viele gar nicht. Und solcher Meisterwerke hat es gewiß in großer Fülle gegeben. Denn wenn man erwägt, welche Verheerungen die Bilderstürmer des 16. Jahrhunderts und der französischen Revolution wie die Brandfackeln der Schweden und Franzosen an unseren Kirchen angerichtet haben, mit welcher Wuth ganze Dome ihres Bildschmuckes beraubt worden sind, dann nimmt es Wunder, daß überhaupt noch so viele Bildwerke aus jener Zeit erhalten sind.[1]


  1. Luther war bekanntlich für die Bilder. — „Bildniß haben ist nicht unrecht. Hat doch Gott selbst im alten Testament Aehern Schlang heißen aufrichten und die Cherubin an der gulden Archen.“
    Luther. 2. Tom. Jen. Fol. 102. a.

         „Kann man nu Altar und sonderliche Stein machen und aufrichten, daß Gottes Gebot dennoch bleibe, weil das Anbeten nachbleibt; so werden mir auch meine Bilderstürmer ein Crucifix oder Marienbild lassen müssen.“

    Luth. Tom. 3. Jen. Fol. 39. b.

         „Ist nu nicht Sünde, sondern gut, daß ich Christi Bild im Herzen habe, warum soll es Sünde sein, wann ichs im Auge habe?“

    Luth. Tom. 3. Jen. Fol. 113.

         „Derohalben sind die äußerlichen Bilder, Gleichnis und Zeichen gut, und nützlich ein Ding dadurch vorzumahlen, zu fassen, und zu behalten. Ja sie dienen auch dazu, daß dem Teufel mit seinen feurigen Pfeilen, der uns mit hohen Gedanken und subtilen Fragen vom Worte abführen will gewehret, und wir dadurch solche helle und leichte Bilder, die ein jeder einfältiger Mensch wol fassen kann im rechten Verstand des Worts erhalten werden.“

    Luth. Hauß-Postill. Sommertheil. 2. Blatt
    gedruckt zu Jena. Anno 1572.
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Max Hasak: Die Predigtkirche im Mittelalter. Wilhelm Ernst & Sohn, Berlin 1893, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hasak_-_Die_Predigtkirche_im_Mittelalter_-_37.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)