Seite:Hennie Raché Belsazar 138.jpg

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Erster Weiser: Herr, ich vermag die Sterne zu deuten, die am Rund des Himmels glänzen, aber nie haben meine Augen jene Buchstaben geschaut... nie solche Worte gelesen... ich weiß nicht zu sagen, o König, was diese Schrift bedeutet!

Zweiter Weiser: Lang lebe der König! Mein Fuß ist durch viele Länder gewandert... ich verstehe die Sprache vieler Völker, aber, o Herr, diese Schrift kenne ich nicht! (Belsazar macht eine heftige, verzweifelte Bewegung)

Dritter Weiser: Herr, ich kann deuten der Vögel Flug und vernehme aus dem Rieseln der Quelle das Schicksal der Menschen... aber jene Buchstaben sind mir fremd!

Belsazar (lacht verzweifelt): Seid ihr die Weisen meines Landes? Den Verstand eines Affen habt ihr! Geht und laßt euch nicht mehr blicken vor meinem Angesicht! Geht, wenn ihr nicht wollt, daß ich eure elenden Köpfe aufspießen lasse! (die drei Weisen ab)(zornig) Und ich bin König und Herrscher über ein großes Land und nenne nicht einen Menschen mein, der mir lesen könnte die Worte an der Wand?

Issar (vortretend): Herr ich habe geschickt zu der Königin, deiner Gemahlin, vielleicht kann sie dir raten, denn es heißt, sie weiß viel über deine Untertanen.


8. Scene.


Die Königin erscheint, begleitet von zwei Sklavinnen.


Königin (sich vor Belsazar verneigend): Ich grüße den König, meinen Gemahl. Herr, ich höre, daß deine Seele sich erschreckt hat und daß du zu wissen begehrst, was niemand weiß.

Belsazar (zeigt auf die Schrift, flüsternd): Siehst du? Siehst du dort?

Königin: Ich sehe, mein Gemahl, seltsame Zeichen, wie sie nie mein Auge zuvor gesehen...

Belsazar (verzweifelt): Und niemand kann sie lesen!

Königin: Herr, fasse Mut! Es lebt ein Mann in deinem Palaste, der den Geist der heiligen Götter besitzt, und er hat Weisheit und Klugheit wie sie. Und dein Vater setzte ihn über die Weisen und Sterndeuter und Wahrsager, darum, weil er weiß die Träume zu deuten und dunkle Sprüche zu erraten. Auch vermag er verborgene Dinge zu offenbaren. Es ist Daniel, Herr, der Juden einer. So rufe nun Daniel, der wird dir sagen, was die Schrift bedeutet.

Belsazar: Issar, geh und tue wie die Königin gesagt hat. (Issar eilends ab)

Rahel (wie aus einem Traum erwachend, leise): Daniel! (lauter) Daniel! (die Königin verneigt sich und entfernt sich mit ihren Sklavinnen)

Belsazar: O, Wenn der Jude die Macht hätte, mein Herz zu beruhigen!


9. Scene.


Daniel (tritt vor den König): Herr, du hast mich rufen lassen?

Belsazar: Bist du der Gefangenen einer aus Juda, die mein Vater, der König, hergebracht hat? Bist du Daniel?

Daniel: Herr, ich bin Daniel.

Belsazar: Man hat mir gesagt von dir, daß du klug seiest und weise wie unsere Götter?

Daniel: Ich bin ein Mensch, und menschlich ist meine Klugheit. Die Weisheit ist nur bei Gott!

Belsazar: Wohl. Aber vielleicht kannst du, was meine Weisen und Sterndeuter nicht können. Siehe, wenn du mir jene Schrift lesen kannst und mir sagen, was sie bedeutet, so sollst du mit Purpur gekleidet werden, ich will dir goldene Ketten geben und du sollst der dritte Herr sein in meinem Königreiche. (er blickt in Gedanken versunken nach der Schrift)

Empfohlene Zitierweise:
Hennie Raché (1876–1906): Belsazar. Drama in 1 Akt.. , 1904, Seite 138. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hennie_Rach%C3%A9_Belsazar_138.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)