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des 1. Korintherbriefes lesen möchten, dann werde man vieler leerer und müßiger Fragen los werden. Nein, kein Wundermensch und doch das größte Wunder, kein menschlicher Heros und doch der größte Held, kein Genie und doch die höchste Weisheit, kein Talent, und doch die höchste Gabe und Kraft, so ist Christus wahrer Mensch, Wirklichkeitsmensch, in allen Stücken, auf allen Wegen der Mensch, nicht ein Mensch, mit dem Leide unzertrennlich verbunden, seine Spuren auch in der Herrlichkeit noch tragend. Es ist ein schlichtes, ein ungelehrtes und doch aller Weisheit höchste Summe in sich begreifendes Bekenntnis: wahrer Mensch und wahrer Gott, den man bitten darf, weil er Mensch ist, zu dem man beten kann, weil er Gott ist, mit dem man brüderlich redet, weil er die erste Andeutung versteht, zu dem man sich aller Macht versieht, weil er göttlicher Art ist. Es ist Luthers höchstes Verdienst, daß er auf dem Hintergrunde einer vollen Menschheitsgeschichte und Menschheitsgestalt das lichte Gottesbild sich abheben läßt, er geht ganz in die Tiefe des tatsächlichen Erdenlebens, das der Heiland durchmessen hat, um uns auf die Höhe zu geleiten, die er jetzt einnimmt, zu der er die ganze Menschheitsgeschichte gleichsam ihr Los antizipierend erhob. „Ich, erhöht von der Erde, will sie alle zu mir ziehen,“ gleich wie ihn das All der Menschheitsgeschichte zu sich in die Schmach herabzog.

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 Wenn wir an der Wahrheit und der Geschichtlichkeit Jesu Christi, dem sein Menschheitsleben nichts von seiner Göttlichkeit abdrang, festhalten, so wissen wir uns von ihm jederzeit verstanden und dann am meisten, wenn wir uns selbst ein Rätsel sind. Er hat die Gebundenen von dem eigenen Ich, das Grundwesen und Vollzug des Leides bedeutet, dadurch befreit, daß er sich an

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Hermann von Bezzel: Christentum und Kreuz. Trowitzsch & Sohn, Berlin 1912, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Christentum_und_Kreuz.pdf/14&oldid=- (Version vom 1.8.2018)