Treue erwiese. Es ist eine schwere Schmach und die meisten Menschen denken gar nicht darüber nach, was es heißt: ohn alle mein Verdienst und Würdigkeit. Wer das weiß, der steht im Mittelpunkt des Evangeliums, wer es aber nicht weiß, der steht außerhalb unserer Kirche.
Fange an, mein Christ, und nimm irgend einen Tag aus deinem Leben, den du mit schönen Vorsätzen begannst, die du durch eine gute Zeit des Tages hindurchrettest, bis an den Abend bewahrtest, und dann sage mir aufs Gewissen, was ist aus diesen Vorsätzen geworden? Die Blüten bedecken den Weg und um den Abend sind sie welk geworden und abgefallen und kein Vorsatz reifte zur Tat. Und wenn nur wenigstens alle Vorsätze blieben! So setzt sich ein ganzes Kirchenjahr aus Niederfallen und Aufgerichtetwerden zusammen. Ein Kirchenjahr ist nichts anderes als eine Summe von guten Gedanken, ernsten Meinungen, frommen Entschlüssen und von Niederlagen in dem allen. Als Luther den ersten Psalmkommentar im Jahre 1516 herausgab, schrieb er darunter in lateinischen Worten: unser Leben ist ein Anfang, kaum ein Fortgang, geschweige eine Vollendung. Wer von uns könnte sagen, daß er auch nur einen Psalm erlebt hätte?
Verdient habe ich also im vergangenen Kirchenjahre tausendfache Verwerfung. Der Tod war öfter an meiner Schwelle, als ich es ahnte, und hinter dem
Hermann von Bezzel: Der 1. Glaubensartikel. , Neuendettelsau 1925, Seite 104. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Der_1._Glaubensartikel.pdf/108&oldid=- (Version vom 1.8.2018)