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und er trat nicht ein, desto mehr hat die Gemeinde in dieser Zeit des Wartens sich gewöhnt zu bekennen, daß er kommen wird, und nimmer zu fragen: „wann wird dies sein?“ Es ist auch nicht notwendig: „von dem Tage aber und der Stunde weiß niemand, auch die Engel nicht im Himmel, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater.“ (Mark, 13, 32.) Alle diese Berechnungen unserer Tage sind Verrechnungen, und all die genauen Angaben, wann er kommen wird, haben uns gelehrt, daß er sich nichts vorschreiben läßt. Wie hat um das Jahr 1000 die Gemeinde gehofft: jetzt wird Jesus kommen! Als der dritte der Sachsenkaiser, Otto III., zum Grabe seines Lehrers nach Gnesen wallte und an die Gruft Karls des Großen nach Aachen ging, wie ging damals durch die Gemeinde die Sehnsucht: jetzt wird Jesus kommen! Und er kam nicht. Als die Reformation einen neuen Frühling der Kirche heraufführte – freilich auch mit großen, zerstörenden Stürmen – da war es auch für Luther Gewißheit, daß er bald kommen werde: „komm, lieber jüngster Tag!“ Er hoffte, das Kommen seines Herrn noch zu erleben. Luther ist zu Grabe gestiegen – und sein Herr kam nicht. Und als man sich anschickte, die Nöte des siebenjährigen Krieges zu überschauen, haben die frommen Württemberger Väter, wie ein Bengel, fest geglaubt, jetzt müsse der Herr kommen. Zur Zeit der französischen Revolution, also vor jetzt 120 Jahren und darüber, war in den christlichen Kreisen allgemein die Hoffnung, daß nun der Herr bald erscheine – und er kam nicht.

 Und seitdem ist immer wieder die Erwartung lebendig geworden, und der Ausblick ist schärfer und die Sehnsucht ist mächtiger; und je mehr der Weltkrieg sich hindehnt und je furchtbarer er die blutigen Furchen durch die Welt zieht, und je mehr Völker herein in das wundersame Gottesgeheimnis des Kampfes bezogen werden, desto mehr erwarten wir: jetzt, jetzt wird bald der Herr kommen!