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Reiche unter ihm lebe.“ Denn in seinem Reiche kann man auch vegetieren; in seinem Reiche kann man auch Jahrzehnte lang ein unnützer, unfruchtbarer Baum sein: „haue ihn ab, was hindert er das Land!“ (Luk. 13, 7.) Darum hat Luther in großem Ernste gesagt: in seinem Reiche unter ihm lebe. Es kommt nicht darauf an, daß ich bin, aber darauf kommt es an, daß ich lebe. Wenn ich heute nicht mehr bin, so sind es andere, die in diese Lücke eintreten, daß die Lücke sich schließe; aber

Weil ich leb auf dieser Erde
Such’ ich dich, o Hirt der Herde!

Es ist die Hauptsache, daß der Christ lebt. Christ sein hat viel mehr getötet als gewonnen; Christ sein hat die Kanzeln entleert und die Kirchen entvölkert und die Gemeinden geschädigt. Es werden nicht die, die da „Herr, Herr“ sagen, erobern.

 Darauf kommt es an, daß meine ganze Persönlichkeit lebt, nicht mit Worten, nicht mit glänzenden und gleißenden Werken, sondern in ihr selbst, in ihrer Natürlichkeit, die er geheiligt hat, in ihrer Bedeutendheit, die er gewonnen hat, in ihrer Eigenart, in ihrer Einzigartigkeit, die er befreit hat von den Schlacken des selbstwilligen Wesens. So gewiß jeder von uns ersetzt wird, so schnell, so rasch und ganz, so gewiß wird auch keiner mehr auf Erden kommen genau so wie du und ich. Denn jeder hat ganz bestimmte Räume zu beherrschen, ganz bestimmte Zeiten zu durchmessen, ganz bestimmte Menschen zu gewinnen. Und wenn wir diese Räume leer lassen und diese Zeiten nicht auskaufen und diese Menschen nicht gewinnen, so gehen diese Räume klagend und verklagend vor uns her, die unbenützten Zeiten beschuldigen uns gar schwer, und die von uns getäuschten und nicht gewonnenen Menschen erheben die Anklage: sie haben nichts an uns getan! Das ist der größte Vorwurf, den man einem Christen machen kann und der auch in der Ewigkeit als solcher erhoben