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mit denen sie die Menschenseele umgarnt, ihre ehernen Ketten, in die sie die Menschenseele schlägt, ist er Mensch geworden. Die Notwendigkeit der Menschwerdung liegt in meiner Sünde und – daß ich töricht rede – in Gottes Sündenfremdheit. Die Notwendigkeit der Menschwerdung liegt darin, daß Einer, der die Sünde tragen wollte, sie in ihrer ganzen Größe ermessen mußte. Wenn eine einzige Sünde unter uns wäre, die der Herr Jesus nicht erfuhr, so wärest du von dieser Sünde nicht erlöst; sie bliebe dir als Schuld angerechnet, und wäre stark genug, dich ewig von Gottes Angesicht zu scheiden. Die allerverkehrteste Regung deines Willens, deren du dich vor dir selbst schämst, die allergeheimsten Schlupfwinkel deiner Seele, in die du selbst nur mit Grauen blickst, die wundersanften Gebilde deiner Phantasie, die dich selbst erbeben machen, hat dein Heiland alle getragen, sie sind ihm alle eine grauenhafte Wirklichkeit geworden, damit er dich von ihnen frei machen konnte. Aber der Gedanke, daß es eine Sünde geben könnte, die Jesus, ich will sagen, nur in der Theorie, nicht in der Wirklichkeit gekannt hat, könnte uns ganz in Verzweiflung bringen. Wenn der Arzt unserer Seele eine einzige Krankheit nicht in ihrer Tiefe, in ihrer Ursache, wie in ihrer Folge, durchschaut hätte, so hätte er für die Krankheit nicht gebetet, für die Krankheit nicht gelitten, für die Krankheit nicht den Tod erfahren, und die Krankheit bestünde noch zu Recht und wer an ihr litte, der müßte an ihr sterben. Es gibt nichts Gewöhnlicheres, und darum auch nichts, vor dem man sich weniger fürchtet, und darum auch nichts, was uns mehr gefährdet, als die Unwahrheit. Wir leben in und mit einer Welt der Unwahrheit und leben von einer Welt der Unwahrheit. Es ist ein seltener Genuß, einem einfachen Menschen zu begegnen in dieser Welt der Uneinfachheit, wo jede Miene studiert, jedes Wort berechnet, jeder Gedanke gekünstelt ist. Wie atmet die Seele auf, wenn sie einen Menschen trifft, der den Mut hat, das zu sein,