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einen haben gemeint, der Gottheit rechte Ehre zu erweisen, wenn sie von einem Scheinleben Jesu redeten, wenn sie lehrten, Jesus habe nur Mensch zu sein geschienen und am Kreuz habe nicht er gelitten, sondern ein anderer stand hinter ihm. Mit einer Lüge will er uns dann von der Lüge befreien und mit einem Schein will er uns von dem Schein erlösen. Und statt daß wir uns an seinem Herzen ausweinen könnten über Sünde und Schuld, ist es ein fremdes Herz, das unsere Not vielleicht kennt, aber nicht wendet.

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 Nein, meine Christen, er ist ganz Mensch geworden. „Er war“, so schreibt der Apostel Paulus an die Philipper, „gleich als ein anderer Mensch und an Gebärden als ein Mensch erfunden“, so sehr, daß er wachsen konnte. (Phil. 2, 7.) Er ist ja nicht als Idealmensch auf Erden gekommen, oder als Wundermensch auf die Erde geboren worden, sondern er war wie ein anderer Mensch. Als er in der Krippe lag, war er von derselben Dürftigkeit, wie ein anderes Menschenkind in der Wiege, nach der Mutter sich sehnend, abhängig, hilflos, bedürftig und unscheinbar. Und in den Stunden der Kämpfe – so gewiß er auch die heilige Majestät bei sich trug – ward er ihrer nicht bewußt. Er war Gottes Sohn und er blieb Gottes Sohn, aber er hatte seine ganze Herrlichkeit in seine Niedrigkeit hineingenommen. Er mußte erst – wir können solches ja nicht erfassen, nur anbeten – er mußte sich erst wieder hineinleben und - lernen in das, was er hatte. Ein armes Bild: ein Talent ist schon in der Wiege talentiert, aber ein hochbegabtes Kind weiß es noch nicht, welche Gabe in ihm schlummert, und erst auf dem Wege des Wachstums, der Ausscheidung, der Wahl und Ablehnung, wird es ihrer gewahr und, je älter es wird, desto deutlicher und sicherer tritt die Gabe hervor und beherrscht den Menschen. So war es beim Heiland. Unser Heiland ist ganz arm, ganz hilflos, ohne jeden besonderen Affekt in der Krippe gelegen und ist so langsam nicht in die Erinnerung