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ersten Tage an, da ich ins bewußte Leben eintrat bis zur gegenwärtigen Stunde habe ich Rollen gespielt. Mein ganzes Leben war ein Verlangen mehr zu scheinen, als ich bin. Meine ganze Arbeit ging dahin, zu verbergen, was an mir ist und darzustellen, was nicht in mir ist. Und so habe ich mich in eine Summe von Täuschungen hineingesteigert und habe meine Umgebung getäuscht und schließlich wußte ich nicht mehr, ob ich es wirklich bin, oder ob ich ein Schatten sei. So wird der Mensch, der von seinem Gott zum Original geschaffen, allmählich zur elenden Karikatur und sinkt als solche ins Grab. So wird der Mensch, der sein Leben lang Rollen spielt, Schauspieler ist und nicht den Mut hat, sein Selbst zu sein! Ach, in stillen Stunden, da nicht das scharfe Urteil der Welt uns quält, sondern das zu gute – denn wir werden immer zu gut beurteilt, nie zu schlecht – in einfachen Gnadenaugenblicken, da unser Herr zu uns spricht: „Mensch, wie lange willst du noch Komödie spielen? Tue Rechenschaft von deinem Haushalt!“ (Luc. 16, 2.) – da geht es durch unsere Seele wie ein Verlangen nach verlorener Kindheit und ihrer Unschuld: Gib mir die Wahrheit! Und wenn sie mich tötet – in ihr werde ich lebendig. Und wenn sie mich entseelt – in ihr finde ich Frieden. Gib mir die Wahrheit! Zeige sie mir in einer Persönlichkeit, daß ich genese. Ich will keine leere, in Lehrsätze gefaßte, an Systeme gebundene Wahrheit. Ich will einen Menschen, der die Wahrheit ist. Was ist Wahrheit? Ich bin die Wahrheit. „Kein Betrug ist in seinem Munde erfunden,“ sagt Petrus, (1. Petr. 2, 22.) Das ist noch zu wenig. Das wäre etwas Starres, Unnahbares, Unnatürliches. Nein, daß er in jedem Blick echt, in jedem Gedanken rein, in jedem Worte lauter, in seinem Werk und Wesen ganz er selber ist. Das läßt uns an ihm genesen. Heilige uns, betet nun eine arme, verlorene, verdammte Gemeinde, heilige uns in deiner Wahrheit! (Joh. 17, 17.) Nimm uns das letzte, auch das, woran ich mich gewöhnt, weil ich meinte,