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gesprochen, das die Seele nicht vergessen kann, bis sie ihn zum ersten Male von Angesicht zu Angesicht erblicken darf: „Sehet, welch ein Mensch!“ (Joh. 19, 5.) Pilatus hat den Menschen wohl in allen Phasen des Lebens gesehen: in seiner Ärmlichkeit, in seiner Erbärmlichkeit, Käuflichkeit, Schande, Hochmut, Torheit, in all der Unlauterkeit, deren nur ein Mensch fähig ist, in aller Armseligkeit, deren ein Mensch sich schämt, in allen Rollen, die der Mensch sich bis zu dem Augenblick zurechtlegt, da der Tod ihm die Maske von Auge und Antlitz reißt; er hat die ganze Komödie der Menschen um ihn her angesehen mit verschränkten Armen, selbst ein Komödiant. Und er hat die Komödianten hinabsteigen sehen von der Weltbühne, nicht unter dem Beifall der Menge, sondern unter dem Hohngelächter der Hölle. Das hat er alles gesehen. Aber solch einen Menschen, dem der Schmerz die Menschenwürde zerriß, dem die Sünde das heilige Antlitz durchfurchte und der Hohn die letzten Gaben und Kräfte zerschlug und zerpflügte, solch einen Menschen sah er nie. Das war nicht der verklärte Schmerz, wie ihn die Antike in Dichtkunst und Kunstwerk darstellte, das war nicht des Schmerzes höchster Adel und heilige Würde, das war Schmerz aus tiefster Schmach und Ungebühr; und überwältigt von dem schweigenden Tragen von Schmerz und Schmach, in die Sünde und Tränen der Menschen Farbe und Form fügten, ruft Pilatus aus: „Sehet, welch ein Mensch!“

 Wenn wir von der ganzen großen Passion unseres Heilandes kein anderes Wort wüßten, als dieses eine: „Sehet, welch ein Mensch!“ so würden wir sagen: „Wahrlich, dieser ist ein frommer Mensch und Gottes Sohn gewesen.“ (Luc. 23, 47.)

 Das alles ist enthalten in dem einfachen Wort: unter Pontio Pilato.

 Wer das recht ins Herz faßt, wie sich die ewige Freiheit einem armen Sklaven zu eigen gibt, wie die ewige Wahrheit sich der