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sichtbarer trat vor ihn das Schwerste, was er sich denken konnte, ja so schwer, daß er es sich überhaupt nicht denken konnte: die Furchtbarkeit, von Gott verlassen zu sein. Man merkt es an seinen Abschiedsreden, wie langsam ihm das Kreuz deutlich wird, das er leiden soll. So wächst der Herr Christus durch den Gehorsam in den Ernst des Leidens hinein, bis er endlich, auf Golgatha angelangt, seines Kreuzes volle Größe und Schwere erfaßt. – Ach, man hört es und man liest es so leicht hin: „Er trug sein Kreuz.“ Wer ein Jünger Gottes sein will, der wähle nicht das Kreuz, das ihm gefällt und suche nicht das Holz zum Kreuz, das ihm beliebt, sondern er verleugne sich selbst. Man kann auch im Leiden sich schmeicheln; man kann in selbstgewählter Aufgabe sein eigenes Ich meinen; man kann an seine Pflichten sich verlieren, in seinen Gehorsam sich ganz hingeben und es ist doch nichts, was Gott gefällt. Das ist das Große an unserem Herrn, daß er nie eine Aufgabe sich selbst wählte, keine leichte und keine schwere, nie eine Arbeit für sich selbst nahm, nie eine Pflicht sich selbst stellte, sondern daß er aus dem Alltag, der ihn umgab und aus der Umgebung, die ihn ängstete, sich das Kreuz von seinem Vater schenken ließ. Er wollte große Schritte zur Ewigkeit machen und der Vater hieß ihn länger in der Zeitlichkeit verweilen. Er wollte mit einem Male sein Volk erlösen und der Vater hieß ihn zuerst das Volk erlernen. Er hätte gern die Menschheit mit einem Male vollendet. Was wäre es ihm Großes gewesen, wenn er alle Zeiten und alle Orte, alle Lande und alle Völker mit einem einzigen großen Opfer seinem Vater als verklärt hätte zu Füßen legen dürfen! Aber der Vater wollte es nicht und litt es nicht und hieß ihn das Kreuz der Armseligkeit und der Erfolglosigkeit tragen. An jedem Abend sich sagen müssen: „Ich denke, ich arbeite vergeblich!“ (Jes. 49, 4.) Am Schlusse jedes Lebensjahres sich gestehen sollen: „Ich bringe meine Kraft unnützlich zu!“ (Jes. 49, 4.) In seiner ganzen Lebensführung