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ein Gott so leiden? Ist das nur ein von Gott Gesandter? Ist das ein Mensch, der nun schon durch 1800 Jahre nicht durch andere Mittel wirken will, als durch das Jammerbild eines Kreuzes? Ist das nicht Gegensatz gegen alles menschliche Empfinden, daß ihr Erlöser am Kreuze hängt? Wie gerne wollte man sich jede Todesart gefallen lassen, die da mit dem Aufschrei des Sieges ein Leben ruhmreich beschlösse! Wie würde die Welt dem Märtyrer zujauchzen, der hin zu den feindlichen Reihen schritte und die Speere der Feinde in seine Brust bohrte! So aber hängt er mit ausgebreiteten Armen und angeschmiedeten Füßen hilflos, heillos, kraftlos, aller Schöne bar und aller Herrlichkeit verlustig, allem, was groß ist, widersagend, einsam am Kreuze. „O Welt, sieh hier dein Leben am Stamm des Kreuzes schweben!“

 Es gehört Glaube dazu, unter diesem Kreuze, unter diesem Holze der Schmach und Schande zu stehen und zu sprechen: Dieses ist mein Heiland! „Mein Lebetage will ich dich aus meinem Sinn nicht lassen!“ Ich verstehe es nur zu gut, wie so viele aus unserem Geschlechte an diesem Kreuze mit Mißbehagen vorübergehen, weil uns dabei zugemutet wird, in der Schmach des Schmerzes die Heilung unserer Seelen zu erblicken, in diesem Bilde der Zerrissenheit und des Jammers unsern Herrn zu erkennen! Aber etliche Arme, die überall angeklopft haben und überall betrogen und getäuscht wurden, etliche Verstoßene und Verlorene, Verlassene, die die Welt nicht verstehen kann und will und die an sich selbst verzweifelt sind, gehen bettelnd zu diesem Kreuze und sprechen: „Erkenne mich, mein Hüter, mein Hirte, nimm mich an!“

 Sieh, er ist am Kreuze gestorben, aller Welt sichtbar. Nun kannst du wählen, nun kannst du dich entscheiden, ob du zu seiner Rechten stehen und sprechen willst: „Herr, gedenke meiner!“ (Luc. 23, 42), oder ob du zu seiner Linken treten und sagen willst: „Ich