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des Menschensohnes und die Allmacht des Gottessohnes nebeneinander stellt, kommt ihr dieses wunderbar armselige Wort. Der Herr, der als Hüter Israels nicht schläft noch schlummert (Ps. 121, 4), der Meister, der die Nacht im Gebete zubrachte und dann mit seinem Vater rang, bis die Morgenröte aufging, der Heilige Gottes, dessen Seele, wenn auch äußerlich vom Schlaf umfangen, zu seinem Vater wachte, und dessen Lobgesang mitten in der Nacht gehört wurde, war so von der Arbeit übermannt und von der Sorge um das Wohl des Lebens und das Leiden der Welt überschüttet, daß er dem Schlafe sich ergab, er ganz allein. Jesus schläft, während die Menschen wachen! Jesus ruht, während die Menschen rudern; Jesus ist in der Stille, während es draußen stürmt; Jesus ist in der Ruhe, während die Woge schwillt! – Welch eine Not Gottes! So müde ist Gottes Sohn geworden, daß er den Vorwurf nicht mehr scheut, müde zu sein, während andere noch die Müdigkeit überwinden. So arm ist Gottes eingeborner Sohn, daß er, alles um sich her vergessend, der Armut der Natur Tribut zahlt und einschläft. Der Sturm kann ihn nicht wecken, das Meer in seinem Brausen und Brüllen ihn nicht stören: Jesus schläft. Und seitdem hat es die Gemeinde Jesu immer wieder mit heiliger Scheu und tiefinnerlichem Mitleid überwältigt: was muß durch deine Seele, du Schmerzensmann und Fürst der Leiden, gegangen sein, daß du schlafen konntest, während wir dem Schlafe wehrten, daß du ruhen mochtest, wo wir ruhelos waren!

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 So oft ich an dieses Evangelium herangetreten bin, habe ich mir gesagt: Menschen können so nicht erfinden, Künstler können so nicht malen. Wenn wir Jesum im Sturm darzustellen hätten – wie glorios würden wir ihn auf Goldglanz malen, es stürmt, und er ist unbewegt; die Welle wächst, und er sieht ihr ruhig zu; die Jünger beten, und er steht aufgerichtet: so würden wir ihn schildern. Aber die Wahrheit schildert anders: Wellen steigen,