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Todesklage durch die Räume des oberen Heiligtums: Gottes Sohn ist tot! und damit ist die Welt nicht zerfallen, sondern gerettet. Gottes Sohn ist tot! und damit ist die Welt nicht vereinsamt, sondern während er in einsamer Todesstille verharrt, hat über sein Kreuz und Grab hinüber die ewige Gottesgröße ihre Hand dem armen, sterblichen Sünder gereicht: „mein Sohn! und er wird mich nennen mein Vater, mein Gott!“

 Wunderbar! Nicht aus Menschensinn und nicht aus Menschenmeinung! Den Reinen läßt Gott allein und den Unreinen zieht er an sein Herz. Den ewig Heiligen läßt er in den Tod versinken, als wäre er ihm nie nahe gestanden, und all die Fernen der Welt, all die Verkommenen der Erde, all die Verwahrlosten und Ungetreuen, das Heer der Sünder, die Menge der Gottverlassenen und Verlorenen ruft er: „Kommet her zu mir!“ Sie kommen am Kreuze vorüber: dort schläft ihr Herr. Sie ziehen am Marterholze vorbei in ungezählten Scharen: dort ist ihr König gestorben. Sie wallen seitdem durch die Jahrhunderte immer wieder, immer wieder am Kreuze vorbei, und das Einzige, was sie sagen können, ist: „wir danken dir, Herr Jesu Christ!“ Und St. Johannes, ehe er stirbt, schreibt in sein Tagebuch, und sein Tagebuch haben wir und sollen es durchlesen, durchleben, durchleiden und durchlieben: „Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, macht uns rein von aller Sünde!“ (1. Joh. 1, 7.) Und er sagt weiter: „Ob jemand sündiget, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesum Christ, der gerecht ist.“ (1. Joh. 2, 1.)

 Das ist die Not Gottes, daß der Vater die Sünder zu seinen Kindern und seinen Sohn zum Fluch machen muß. Das ist die Not Gottes, daß die Heiligkeit den Heiligen verwirft und den Unheiligen annimmt. Und wiederum: das ist die Not Gottes, daß die Reinheit am Kreuze den Tod des Sünders erleidet.

 Und damit niemand zweifle und alle Zweifler genesen, fährt das Glaubensbekenntnis schüchtern und doch so tiefgründig fort –