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St. Viktor († 1140). Von diesem Worte des mittelalterlichen Mystikers, des „zweiten Augustinus“ aus seiner Schrift De vanitate mundi soll endlich die praktische Betrachtung ausgehen, welche das gewaltige Werden der göttlichen Heiligkeit uns nahe legt. In einer Zeit, da alles zur Stille gedrängt wird, weil der Herr in seinem heiligen Tempel redet, unwidersprochen, übermächtig und unwiderlegbar, da die Völker wie der Staub in der Wage durcheinandergewirbelt und die Völkermeere wie der am Eimer schwebende Tropfen bewegt und zitternd gemacht werden, mögen andere unter die eisernen Räder eines erbarmungslosen Geschickes in stumpfer Resignation sich werfen, die Bitterkeit des Todes verachten und vertreiben wie jener Amalekiterfürst (1 Sam. 15, 32), wir wollen, um unser Wächter- und Hirtenamt recht auszurichten, auf die Zeichen achten, die der Herr gibt, und in solcher Achtsamkeit uns vor dem Zorn Gottes fürchten, in welcher Furcht der rechte ernste Anfang zur Heiligung liegt. Denn es ist die Furcht der Gotteskinder, die ohne Gott sich ganz verlassen wissen und unter allen schweren Stunden die für die schwerste halten, wo er für lange sich ihnen entzieht, nicht die verhärtende Furcht der Knechte, die zwischen das Kommen des Herrn und sich die Zeit stellen, als ob Geschaffenes vor der Gewalt des Schöpfers schützen könnte.

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 Die Furcht Gottes ist alt- wie neutestamentlich das tiefinnerliche Wissen um die Bezogenheit auf ein Ich, ohne welches das eigene Last und Strafe, durch das allein mein Ich mir zur Freude wird. Die Furcht Gottes ist, wie bei ihm die Heiligkeit, so bei den Menschen die alles beherrschende und bestimmende Grundkraft, aus der alle reine und echte Willensregung entsteht. Gleichmäßig beherrscht sie die Gedankenwelt, in der alles, was Schluß und Überlegung, Kombination und Mutmaßung empfinden und ergründen, durch den Drang der Wahrheit vor dem einen zurücktritt, was unerfindlich ist. Alle Gedanken kehren wieder zurück, weil sie an Rätseln sich zerquälen und das, was allein sie heilen soll, das größte Rätsel ist. Gott wird der einzige Gedanke der Seele, weil sie ein Gedanke Gottes ist: in dieser Gewißheit berührt sich Denkender und Gedachtes beim Denken. Und ohne daß die Rechenschaft, die das Gefühl, wenn es nicht sinnlos quälen oder nutzlos täuschen soll, dem Verstand schuldet, ganz geleistet werden kann, spürt die Intuition des gefühlsmäßigen Lebens heilige Scheu vor dem Unnahbaren, die zugleich die Empfindung stiller Geborgenheit gewährt. Das innere Erlebnis der hilflosen und wehrlosen Abhängigkeit von Gott ist zugleich die innerliche

Empfohlene Zitierweise:
Hermann von Bezzel: Die Heiligkeit Gottes. Dörffling & Franke, Leipzig 1916, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Die_Heiligkeit_Gottes.pdf/20&oldid=- (Version vom 9.9.2016)