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 Gebt dem Gedächtnis des Kindes das Gute, das Beste, aber gebt ihm wenig! Ehrt und pflegt das Gedächtnis, diese große sittliche Kraft des Menschen, die Kraft, von der ein Denker sagt, sie sei eine Größe, die in allen wiederholt wird, also daß der Greis im Gedächtnis sich verjüngt. Oder ist es nicht, wie wenn beim Photographieren Platten zur Nachbestellung aufbewahrt würden, daß in alten Tagen längst verschwundene Bilder, vergessene Verse und Begebenheiten, die wir längst aus unserem Kopfe herausgedacht hatten, wieder in deutlicher Klarheit hervortreten? –

 Der alte Meister sagt: „So will ich trauern, wenn ich im Alter nicht wieder jünger werde“. Und der selige Bengel schreibt einmal: „Mein Gedächtnis hat mich im Alter viele Personalien darstellen lassen“.

 Pflegt das Gedächtnis, ihr tut den Kindern ein Gutes! Lehrt sie das gute Sprüchlein, den rechten Vers und den frohen Sang und erzählt ihnen all das, was mit wunderbarer Treue eure Kindheit wahrhaft verschönte. Auch Unwahres? Es gibt einen Purismus und Fanatismus der Wahrheit. Als ob man dem Kinde nicht die Fabel erzählen dürfte und das Märlein, das sich, wie Jakob Grimm in seiner Vorrede so fein sagt, mit seinen großen, lieben Kinderaugen dem Kinderherzen so sehr empfiehlt. Was ihr dem Kinde an Gutem gebt, sei es Wirklichkeit, oder sei es Wahrheit, sei es holde Dichtung oder große Offenbarung, das habt ihr ihm auf dem Lebenssweg gegönnt.

 Und dann erweckt und pflegt das Denken, das Denken, das sich beim Kinde zuerst in seiner Phantasie zeigt, denn Phantasie ist die Netzhaut der Seele, die alle Eindrücke hereinnimmt und dann weitergibt und ausgestaltet. Es liebt die Fähigkeit, sich eine Welt zu bauen. Darum segnen wir die Eltern, die ihrem Kinde wenig Spielsachen geben und sie an dem wenigen Genüge haben lassen, damit sie das Wenige mit ihrer blühenden Phantasie bereichern. Wir loben alle die Erfindungssgabe des Kindes, das mit etlichen Hölzchen sich eine Burg, Kirche, Kirchenzug und Hochzeitsleute darstellt. Fürwahr wir freuen uns, wenn der Kinderphantasie auch manchmal dass rasche Wort enteilt. Das Kind sieht mehr wie die Alten, erlebt mehr wie die Alten, lebt in einer Traumwelt, die uns nicht mehr und noch nicht beschieden ist. Das Kind läßt alle Gestalten in seiner Umgebung auf sich wirken, merkt sich das Einzelne und bereichert es, läßt Hunde an der Hütte reden und die Katze in dem Hausflur, läßt Bäume, Blumen und Blätter ein Gewand annehmen, hält mit ihnen trauliche Zwiegespräche und denkt dabei soviel, daß ein Dichter fein gewünscht hat: „Daß wir wie die Kinder weinen, daß wir wie die Kinder lachen, daß wir seien und nicht scheinen. – Hat nicht der Herr selbst mit heiligem Wohlgefallen den Kindern auf dem Marktplatz zugesehen, wie sie einander zurufen und winken, wie die einen klagen und die anderen wollen nicht weinen, die einen den Festreigen aufführen und die anderen wollen nicht mittanzen? Hat er nicht an diesen Kinderbildern sich ein großes Wohlgefallen gesehen und dann die Kinder in ihrer Unmittelbarkeit des Denkens, in der Unbeeinflußtheit ihrer Behauptungen und Ansichten hochgepriesen? – Hat nicht das Kind einen tiefen Eindruck von dem, was recht und von dem,

Empfohlene Zitierweise:
Hermann von Bezzel: Die Pflege der Kindesseele. Verlag der Buchhandlung des Vereins für innere Mission, Nürnberg 1918, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Die_Pflege_der_Kindesseele.pdf/11&oldid=- (Version vom 8.9.2016)