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wisse, was es gehabt hat. Es gibt Eltern, die ihre Kinder mit einer Liebe umgeben, für die unsere Sprache die Bezeichnung aus der Tierwelt sich geholt hat, die alle Wünsche ihres Kindes erfüllen, selbst mit Darangabe des eignen, die ihr Kind nicht weinen sehen können und ihrem Kinde alles zugestehen. Ihr habt wohl solche Eltern und ihre Dialoge mit Kindern vernommen: „Darf ich noch ein Stück haben? Nichts mehr, kein Stück mehr! Aber soviel, soviel, soviel?“ Und in einer etwas anderen Folge, als der große Beter mit Gott abhandelte, handelt dann das Kind mit seinen Eltern ab und die Eltern sind noch stolz über das erfindsame Kind. Das kleine Kind soll zuhause gebracht werden, zuhause sein, wenn die Glocke läutet, aber es möchte noch auf dem Wege spielen. Die Mutter sagt: „Jetzt gleich, jetzt augenblicklich!“ und überläßt dem Kinde das „gleich“ und „augenblicklich“ nach seinem Sprachgebrauch auszulegen und hat dadurch das Kind mit dem Fluch der Unpünktlichkeit und mit dem Laster der Ungenügsamkeit bekannt gemacht. – Versagt, entzieht, verweigert dem neidischen und ungehorsamen Kinde, damit es lerne, es sei kein Recht, was es beanspruche, sondern eine Freundlichkeit, die ihm widerfahre. Und wenn dein Kind anspruchsvoll im Essen werden will, wenn es naschhaft ist? Zwar Jean Paul sagt einmal: „Kinder haben Wachs- und Honig-Mägen, wir Erwachsenen haben bloß Wachsmägen, wenigstens im Durchschnitt“, und darum müsse man auch den Kindern die Fleischtöpfe Aegyptens gönnen, ehe sie in die Wüste des Lebens hinaus den Zug wagen, und je mehr man dass Kind mit Näscherei und Süßigkeit füttere, desto leichter werde ihm später die Wüste. Das ist dieselbe Theorie, die wir jetzt überall sehen, jene von dem seligen Philanthropin herübergenommene, daß man den Kindern in der Jugend alles recht leicht machen müsse, weil sie es später doch „nicht mehr so bekommen“.

 Der große Erzieher, der sagt, daß es dem Mann ein köstliches Ding sei, wenn er in der Jugend das „Nein“ erfährt und sein Joch trägt, ist längst überaltet und vergessen.

 Glaubt es, wenn eure Kinder nichts stehen sehen können, immer mehr begehren, als sie haben, an Süßwerk und Bäckerei ihre Lust tragen, so werden sie später auch hinüber in eine andere Sphäre greifen, die der Feind mit Süßigkeit bekleidet hat, während in ihr die Bitternis der Reue und das Verderbnis von Leib und Seele lauert. Wenn eure Kinder jetzt sich nichts versagen können, greifen sie später über Gehalt und Grenze der Ehre und des Namens hinein in das Eigentum des Nachbarn, sind nicht mehr keusch und rein, nicht mehr lauter und wahr. Anspruchsvolle Kinder, naschhafte Kinder, sind auch verlogene Kinder. –

 Wiederum sagt ein alter Erzieher: „Wenn die erste Lüge kommt, dann wisse, daß ihre Kinder alsbald hinter ihr dreingehen“. Und wie es für Kinder die bitterste Enttäuschung ist, die keiner vergißt, der sie einmal erlebt hat, daß auch die geliebtesten Menschen unwahr erfunden werden, auch die Eltern nicht mehr ganz klar bei der Wahrheit stehen, wie es für die Kinder ein „Sterben ohne Ende“, ein Leid und

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Hermann von Bezzel: Die Pflege der Kindesseele. Verlag der Buchhandlung des Vereins für innere Mission, Nürnberg 1918, Seite 13. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Die_Pflege_der_Kindesseele.pdf/13&oldid=- (Version vom 8.9.2016)