Seite:Hermann von Bezzel - Die sieben Sendschreiben.pdf/90

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

aber auf verschiedene Weise. Entweder läßt er einen Menschen durch sein Scheinwesen in große Sünde geraten, damit er sieht: „Das war dein Bekennen und das ist dein Leben“, damit der Mensch selber erschrickt und sagt: Ich dachte fromm zu sein, und zu solchen Dingen ist es bei mir gekommen! Ein Mensch kann am Sonntag beim Sakramente ganz hingegossen sein in Andacht und am Montag in der pöbelhaftesten Weise sich benehmen. Und das ist manchmal gut; denn es zeigt, wie der Schein ein Menschenherz beherrschen kann. Oder er stellt uns einen Menschen vor, an dessen Nüchternheit unser Schein zerrinnt, der ein Wort ums andere, ein Bekenntnis nach dem andern auf seinen Gehalt prüft und sagt: Das ist nicht so, kann nicht so sein. Scheinleben hat die Gefahr, daß es das Wähnen zur Tatsache und die Tatsache zur Einbildung macht. „Wache auf! Noch ist es Zeit! Ich rüttle dich auf vom Schlaf! Und dann gebrauche deine Kräfte und stärke mit der Stärke, die du noch besitzest, mit der Gnade, die dir geblieben ist, das Uebrige, was sterben will!“ Wenn du jemanden, mein Christ, in dein Scheinleben hineingezogen hast, dann bist du es ihm schuldig, daß du ihn auch in dein Erwachen hineinziehst. Wenn du jemanden leiden ließest unter deiner falschen Art, so ist es auch deine Pflicht, daß du ihn dann in deiner neuen Art aufleben lässest. Das ist ein großer Trost ohnegleichen, daß uns hier der Herr, da er weiterfährt, spezielle Beichtanweisung gibt: „Ich habe deine Werke vor Gott nicht erfüllt gefunden.“ „Das kleinste Kind“, sagt Bengel, „das seine Kniee beugt im Namen Jesu Christi und