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wenn er, eingedenk seines Angebotes auf Tempelzinnen und Bergeshöhen, jetzt bereut hätte, diesen einsamen Weg erwählt zu haben! Aber das ist eben die göttliche Größe des Herrn und seines heiligen Gehorsams, daß er in allem Leid, auch in dem schwerst zu erduldenden und härtest zu tragenden Leid, sagen darf: „Vater“. Nicht mehr sieht er die Härte des Weges, nicht mehr gedenkt er der Einsamkeit des Leidens: nun hebt die Sonne an über sein Kreuz zu scheinen. Es wird der Spott unter seinem Kreuz lebendig, zur Rechten der Feind, zur Linken der Gegner und ringsum all die Torheit der Welt; er aber bleibt gelassen und getrost: „Vater!“ Liegt nicht in diesem Worte die erquickliche Rechenschaft, die der Sohn dem Vater ablegt: „Nun habe ich alles gehalten von meiner Jugend auf, was fehlt mir noch?“ Liegt nicht in diesem schlichten Worte die Gewißheit, daß niemand und nichts ihn von der Liebe Gottes scheiden kann, weil er des Vaters lieber und getreuer Knecht ist? Und wer mag es ihm wehren, daß über der Wirklichkeit der Dinge und über den Schrecken des Leidens und über dem Ernst des Abschieds seine Seele sich emporhebt und dem Heimweh das eine Wort verleiht als Ausdruck alles dessen, was ihn jetzt bewegt: „Vater“. Nun tut sich ihm die Herrlichkeit auf, die er um deinet- und meinetwillen verlassen hatte. Es begrüßen ihn all die Getreuen, die ihn bis zur Erde begleitet und dann Abschied von ihm hatten nehmen müssen. Es geht durch seine Seele das Einst des Friedens und das Jetzt des Streites, das Einst der Seligkeit und das Jetzt der Hölle, das Einst der völligen Sättigung und Einheit im Vater und das Jetzt der einsam verschmachtenden Seele. „Ich bin ausgeschüttet wie Wasser – meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe“ (Ps. 22, 15. 16). „Vater!“ Kein Protest: warum hast du mir das getan? Kein

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Hermann von Bezzel: Die sieben Worte Jesu am Kreuz. Müller & Fröhlich, München 1918, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Die_sieben_Worte_Jesu_am_Kreuz.pdf/10&oldid=- (Version vom 1.8.2018)