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so lange die Sünde anwachsen und das Unrecht ansteigen und die Schuld hereinfluten läßt, bis der Vater sein heiliges Angesicht vor dem verbirgt, in dem er sich selbst sieht und findet, und sich von dem wendet, der der Sohn seines Wohlgefallens und der Abglanz seines Wesens ist. Wenn es nicht so furchtbar wäre, könnten wir uns rühmen: Ich hab’, was nie kein Mensch gedacht, Gott seinen Sohn genommen, ich habe, was nie ein Engel vermocht, was selbst der Fürst des Abgrundes nicht zu tun imstande war, erreicht: ich habe mich zwischen den heiligen Vater und den schuldlosen Sohn gestellt und habe so lange auf den Sohn meine Schande, meine Sünde und Schuld, mein Elend und meine Untreue gebürdet, bis er unter der Last der Sünde zum Fluch ward, über den Gott zürnte.

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 Das ist die Furchtbarkeit der Todesstunde unseres Herrn von der sechsten bis zur neunten Stunde: das tiefe Schweigen, als ob die Natur warten wollte, was ihr Herr im Himmel gegen ihren Herrn auf Erden vermag, als ob die Erde lauschen wollte, ob der Vater zu seinem Sohne das lösende, ladende oder das verdammende und verurteilende Wort spräche. Drei Stunden geht es über die Erde wie ein ehrfürchtiges, andächtiges, mitleidsvolles Schweigen. Die Sonne verliert ihren Schein und der Tag wandelt sich in Dunkel und die Helligkeit verkehrt sich in Trübnis, daß man sähe, wo es hinaus wolle. Und um die neunte Stunde hatte die Sünde ihr Werk und der Sünden Allmacht ihr Tun vollbracht. Um die neunte Stunde rief der Heilige Gottes in die Stille und in das Schweigen der Elemente, in die harrende Menschheit, in die bebende Engelschar, hinab in das Jauchzen der Hölle: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ Das ist die Allmacht der Sünde: sie scheidet Gott von Gott, sie trennt den Heiligen von dem Gehorsamen, sie entfernt

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Hermann von Bezzel: Die sieben Worte Jesu am Kreuz. Müller & Fröhlich, München 1918, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Die_sieben_Worte_Jesu_am_Kreuz.pdf/57&oldid=- (Version vom 1.8.2018)