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von anderen vergessen, einer mich seinem Vater aufs Gewissen gelegt, einer mich dem ewigen Gott, der alles weiß, zum rechten Ernst und großer Treue befohlen hat. Meine Wege werden, je höher die Jahre steigen, desto verwirrter, rätselvoller, die Sünde macht ihren Widerspruch gegen den Glauben, der Glaube wagt die Gegenvorstellung gegen die Sünde, die Sünde spricht mich an als Wahrheit und der Glaube wagt sich nimmer heran als Wirklichkeit, die Sünde geht über die Welt und die Erfahrung zwingt unter die Welt. So wird der Mensch immer ärmer und einsamer. Es wird in uns alles starrer, weniger lebensvoll, es gewinnt alles mehr formelhaften Ausdruck. Aus den größten Tatsachen werden Begriffe, aus der hohen Liebesgnade werden Worte, aus der wundersamsten Liebestat am Kreuz wird, wenn es hoch kommt und gut geht, eine flüchtige Erregung, werden etliche Tränen, die so bald trocknen, so bald sie im Auge schimmern.

 Und nun bittet der Herr: in deine Hände befehle ich mein Werk, alles, was ich gearbeitet habe, jede umworbene, gewonnene, nicht mit Gold oder Silber, sondern mit meinem heiligen Blut errettete Seele. In deine Hände befehle ich den Irrweg, ob er nicht doch noch zum Ziel führt, den Umweg, ob er nicht doch noch zur Heimat gelangt, und die einsamen Wege, ob sie nicht doch noch zu Lob und Preis ausmünden. Was meinen Geist unablässig und unaufhörlich beschäftigt, befehle ich in deine Hände.

 Gemeinde Jesu! Was ist das für ein niederdrückender Gedanke, daß sich der Herr viel tausendmal mehr mit mir beschäftigt, als ich mich mit ihm befasse! Was für ein tiefbeschämendes Wissen ist das, daß er, dem ich Arbeit gemacht habe mit meinen Sünden und Mühe mit meiner Missetat, so oft und so viel und so ohnmächtig an mich

Empfohlene Zitierweise:
Hermann von Bezzel: Die sieben Worte Jesu am Kreuz. Müller & Fröhlich, München 1918, Seite 90. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Die_sieben_Worte_Jesu_am_Kreuz.pdf/92&oldid=- (Version vom 1.8.2018)