Seite:Hermann von Bezzel - Die zehn Gebote.pdf/106

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ich nehme es herzhaft und esse es, damit ich genese. Und so ist es mit Gottes Wort auch. Es ist dem Menschen geschrieben, damit es die Menschen hätten; es ist der Seele gesagt, damit die Seelen seiner sich erfreuen. Dieses Wort, dem Menschen gegönnt, gilt der Menschheit und an den einzelnen gewendet, wendet es sich an alle. Wem ist es geschrieben, wem gilt es? Nicht den Reichen, nicht den Gewaltigen. Nicht den Weisen, die es gar oft vor einer staunenden Zuhörerschaft zum hundertsten Mal totsagen und begraben, die brauchen das Wort nicht und an die wendet es sich auch nicht. Und die in ihren Leitartikeln und Feuilletons und in ihren geistreichen Aperçus nachweisen, wieviel höher Buddha sei als der Eingeborene vom Vater und wieviel größer dieser Träumer und Schläfer in der Wüste sei als der, dem am Kreuze das Herz brach über euch und über mich  – die brauchen das Wort auch nicht und an die wendet es sich auch nicht.

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 Denn die dunklen Stellen in Gottes Wort rühren her von den dunklen Stellen in deinem Herzen, nicht daß sie dunkel wären, sondern weil du mit dunklem Blick sie siehst. An wen, frage ich, wendet sich das Wort? An das Volk, des man Greuel hat, an die Verstoßenen, die kein Klassiker mehr tröstet; an die zerrissenen Gemüter, in die kein Klang der Symphonie mehr dringt; an die Armen auf dem Krankenlager, an die Einsamen und Weltverlassenen, an die Armen, die wieder einmal den Staub von ihrer Bibel weghauchen, daß sie noch einmal zu ihnen rede wie einst; an all die, welche sich müde gesucht und müde gelaufen haben und fanden keine Quelle, die sie labte und keinen Ort, da sie wohnen konnten, hungrig und durstig und an der Seele verschmachtend; an alle, die da schweigen und feiern und mutlos sind und keinen Trost mehr haben, denen das Leben zu schwer und das Sterben zu leer ist, an diese alle wendet sich das Wort: „Euch will Ich erquicken.“